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weislich“, sie „hängen aber einem a priori unbedingt geltenden praktischen Geseze [eben dem Sittengefeße] unzertrennlich an" (pr. V. 147).

Es fragt sich nun, ob wir ein Recht haben, an die Wahr heit dieser Säße zu glauben. Um diese Frage zu beantworten, glaubte Kant nichts Geringeres nötig zu haben, als die umfaffende und tiefbohrende Untersuchung des menschlichen Er kennens, die in der „Kritik der reinen Vernunft“ vorliegt.

Drittes Kapitel

Kants Philosophie der Erkenntnis

1. Die Fragestellung

Das eigentliche Fundament von Kants Lebens- und Weltanschauung liegt in seiner Überzeugung, daß wir verpflichtet find, sittlich zu handeln, daß wir also auch dazu fähig sein müssen, daß wir mithin in diesem Sinne frei sind.

Aber dürfen wir uns für frei halten? Diese Frage wird uns aufgezwungen durch die geistige Macht, die das moderne Denken seit dem sechzehnten Jahrhundert aufs tiefstgehende beeinflußt hat, durch die mathematische Naturwissenschaft. Ihr oberster Saß ist ja, daß alles Geschehen in der Wirklichkeit durch vorangehende Ursachen eindeutig bedingt und bestimmt, mithin notwendig sei. Gilt das für alles Geschehen, so wird das auch für die seelischen Vorgänge im Menschen, also auch seine Willensakte, seine Entschlüsse, seine Wahlentscheidungen gelten. Mithin wird auch all sein Wollen und Handeln naturnotwendig und insofern unfrei sein. Wie kann man dann aber noch den Menschen als ein fittliches Wesen ansehen, wie kann man ihm sein Verhalten zurechnen, wie kann er sich selbst dafür verantwortlich fühlen,

ja können dann überhaupt für ihn sittliche Gebote Sinn und Geltung haben?

Dies Problem lastet auf Kant und treibt ihn zur Untersuchung der menschlichen Erkenntnis. Denn wenn die Er kenntnis der Naturwissenschaft uns die Wirklichkeit nach Umfang und Tiefe erschöpfend erschließt, dann müssen wir, wie es scheint, auf unsere Überzeugung frei zu sein als auf ein unwissenschaftliches, ungültiges Vorurteil verzichten, dann ist Freiheit nicht zu retten. Indessen es gab ja von alters her einen Zweig der Philosophie, der den Anspruch erhob, gleichsam die lehten Tiefen der Wirklichkeit zu ergründen, noch das zu erfassen, was „hinter“ der erfahrbaren Natur liege (zum Beispiel Gott, das Jenseits), — die Metaphysik (in dem S.53f. angegebenen Sinne). Aber freilich, während die Naturwissenschaft in stetem Vorwärtsdringen, in unaufhaltsamer Höher entwicklung sich befand, war die Metaphysik schon längst zu einem „Kampfplah endloser Streitigkeiten" geworden; ja schon zu Kants Zeit gab es viele, die zweifelten, ob überhaupt eine Metaphysik als wissenschaftliche Erkenntnis möglich sei. „Es war eine Zeit," so bemerkt Kant in der Vorrede zu seiner „Kritik der reinen Vernunft“, „in welcher sie die Königin aller Wissenschaften genannt wurde und, wenn man den Willen für die Tat nimmt, so verdiente sie wegen der vorzüglichen Wichtigkeit ihres Gegenstandes allerdings diesen Ehrennamen. Jest bringt es der Modeton des Zeitalters so mit sich, ihr alle Verachtung zu beweisen" (r. V. 3f.).

Die Sachlage war also damals diese: daß die mathematische Naturwissenschaft wirkliche Erkenntnisse liefere, daran zweifelte niemand; daran hat auch Kant nie gezweifelt. Wohl aber

schien es höchst fraglich, ob die Metaphysik ebenfalls imstande sei uns Erkenntnisse zu bieten, ob sie insbesondere imstande sei, noch über die Naturerkenntnis hinaus, gleichsam in tiefere Schichten der Wirklichkeit einzudringen und Fragen überzeugend zu lösen, wie die nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, die von vielen, einseitig naturwissenschaftlich Denkenden, von vornherein verneinend beantwortet wurden.

Wenn aber ein Urteil darüber gewonnen werden soll, ob Metaphysik wirklich zu Erkenntnis führen könne, ob sie als Wissenschaft möglich sei, so wird man gut tun, sich zunächst über das Wesen wissenschaftlichen Erkennens völlig klar zu werden. Dazu wird man aber am besten durch eine Untersuchung der beiden Disziplinen gelangen können, deren Geltung feststand : der Mathematik und der Naturwissenschaft. Ist man an ihnen zur Einsicht gelangt, was denn eigentlich wissenschaftliche Erkenntnis sei und auf welchen Bedingungen sie beruhe, so wird die Entscheidung über die Erkenntnisansprüche der Metaphysik eher möglich sein.

So gliedert sich Kants Erkenntnistheorie in die Behandlung von drei Hauptfragen: wie ist Mathematik, wie ist Naturwissenschaft und wie ist Metaphysik möglich? In den „Prolegomena“ tritt diese Gliederung und Problemformulierung klar hervor. In der „Kritik der reinen Vernunft" ist die „transzendentale Ästhetik“ im Wesentlichen der ersten Frage, die „Analytik“ der zweiten, die „Dialektik“ der dritten gewidmet.

Es hatte sich aber Kant bei seinen Untersuchungen des Erkennens zugleich mit den beiden Hauptrichtungen, die sich in der Erkenntnistheorie (wie auch in der Lehre vom

Sittlichen und der Kunst) vor ihm herausgebildet hatten, der empiristischen und der rationalistischen, auseinander zusehen. Er mußte dies um so mehr, als diese Richtungen auch über den Erkenntniswert der Metaphysik sehr verschieden urteilten.

Der Empirismus, der vor allem von englischen Philo sophen wie Locke (1632-1704) und Hume (1711-1776) vertreten wurde, erklärte, die Erkenntnis sei ihrem Wesen nach „Erfahrung“ (griechisch: Empeiria). In der Erfahrung, soweit sie von der uns umgebenden Welt Kunde gibt, erblickte man eine (passive) Aufnahme von Eindrücken durch die Sinne. Auf diese wirken die unabhängig von uns eristierenden Dinge und Vorgänge und erregen Vorstellungen in unserem Be wußtsein. Unsere Seele verhält sich dabei aufnehmend (rezeptiv), höchstens daß sie die Wahrnehmungen und die von ihnen im Gedächtnis verbleibenden Erinnerungsvorstellungen trennt, verbindet und unterscheidet. Dagegen tut sie nichts hinzu, all ihr Vorstellungsbesis stammt aus der Wahrnehmung. Ohné diese ist die Seele wie ein unbeschriebenes Blatt. Sie bringt keine Vorstellungen (als angeborene) mit auf die Welt, fie er zeugt auch keine selbst, sondern sie empfängt alle erst nachträglich (a posteriori), eben durch die Wahrnehmung.

Durch diese Grundanschauung wurde aber die Auffassung nahegelegt, daß auch unsere Erkenntnis nicht über die unserer Erfahrung zugängliche Natur hinaus vordringen könne, daß ein Wissen von etwaigen Wirklichkeitsbereichen jenseits der Natur unerreichbar, eine Metaphysik also unmöglich sei.

Anders nahmen zu dieser Frage die Rationalisten Stellung. Sie sahen in der Erfahrung und den sie bedingenden

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