Page images
PDF
EPUB

doch seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Prinzipien strebt, gefordert werden kann“ (Gr. 463).

8. Wert und Individualität in Kants Ethik

Man kann nun diese Betrachtung Kants noch um eine Strecke weiter führen, wenn man die Frage nach der Geltung des kategorischen Imperativs in ihrem Wesen als Wertproblem erfaßt. Von den Begriffen Imperativ (Gebot, Soll, Norm) und Wert erweist sich der lettere als der höhere. Man kann nämlich auf die Frage: warum soll ich etwas? sinnvoll antworten: weil es wertvoll ist, aber nicht umgekehrt, daß etwas wertvoll ist, daraus erklären, daß ich es soll.

Im Wert ruht gleichsam unser Wollen befriedigt aus; in ihm sieht es sein eigentliches Ziel; sofern aber der uns vorschwebende Wert (wozu auch sogenannte Ideen und Ideale gehören) noch nicht verwirklicht ist, tönt gleichsam ein Soll, ein Imperativ aus ihm uns entgegen; wir erleben in uns das Gebot ihn zu verwirklichen.

Freilich ist dieser Imperativ nicht bei allen Werten ein kategorischer. Vieles ist uns nur insofern wertvoll, als es ein Mittel darstellt zur Erreichung des Wertes, der unser eigentliches Willensziel, unseren Zweck darstellt. Solchen abgeleiteten Werten entspringen die hypothetischen Imperative; aber wenn etwas in sich wertvoll ist, wenn es einen Selbstwert darstellt, so ist der ihm entspringende Imperativ als ein kategorisches Gebot zu charakterisieren.

Einen solchen Selbstwert, ja den höchsten, stellt nun für

Kant das gesehmäßige Handeln dar, dieses ist zugleich da jenige, durch das sich der Einzelne grundsätzlich in die Gemei schaft der Vernunftwesen, in das Reich der Zwecke, einordn

Es ist nun klar, daß die Geltung der Schäßung ein Selbstwertes nicht weiter bewiesen werden kann. Anders bei abgeleiteten Wert! Hier gilt: Wenn du den eigentlich Zweck erreichen willst, so mußt du dies als Mittel schätzen w wollen. Beim Selbstwert aber stehen wir an einem Leßten; n Kant bei seinem kategorischen Imperativ.

Erklärt werden kann aber immer nur ein Vorleßtes, 1: ein Letztes.

Damit, daß wir den kategorischen Imperativ Kants auf d Selbstwert der Geseßmäßigkeit zurückführen, haben wir in de Zusammenhang der Begriffe zwar noch einen Schritt rückwät getan; wir können sagen: daß Kant den kategorischen Imp rativ, der von uns Geseßmäßigkeit unserer Grundsäße forde als gültig erlebt, erklärt sich daraus, daß er Geseßmäßigk überhaupt als Selbstwert schäßt. Aber daß nun diese Schäßm selbst gültig ist, das kann nicht weiter erklärt oder bewies werden.

Weit verbreitet ist nun die Meinung, daß nur das siche stehe, was bewiesen werden könne. Indessen, das ist ein bloß Vorurteil. Im Gebiete der Wirklichkeitserkenntnis ist die Fü des in äußerer oder innerer Wahrnehmung uns Gegeben eines „Beweises" weder fähig noch bedürftig. Entsprechend gi es im Bereich der Wertschätzungen solche, die eines Beweis deshalb nicht bedürfen, weil sie uns als gültig unmittelb einleuchten. Man darf wohl annehmen, daß für Kant „Gese mäßigkeit" des Handelns dasjenige war, was ihm als oberst

Wert und damit als höchste Norm unmittelbar einleuchtete. Man wird aber diese seine Schätzung besonders dann teilen und als gültig erleben, wenn man bedenkt, daß sie für ihn untrennbar zusammenhängt mit der Schäßung der Gemeinschaft = vernünftiger Wesen (d. h. der Kulturgemeinschaft, wie wir heute lieber sagen würden). Indem der Einzelne nicht nach zufällig gegebener Neigung und Laune, auch nicht einfach aus seiner Selbstsucht heraus handelt, sondern fragt, welches Verhalten er zugleich als allgemeines Gesez wollen kann, nimmt er unmittelbar Rücksicht auf seine Mitmenschen; er ordnet sich der Gemeinschaft grundsäßlich ein; er will nichts für seine Person voraushaben; er ist dann auch in der Lage, jedem gerecht Denkenden von seinem Tun und Lassen Rechenschaft zu geben. Man kann so sagen, daß der Wille zum Geseß, in dem = Kant das Wesen der sittlichen Gesinnung (des „guten“ Willens) sieht, sich deckt mit dem Willen zur Kulturgemeinschaft. Dazu stimmt, daß der unsittliche Mensch meist bestrebt ist, seine = wahre Gesinnung, die wirklichen Beweggründe seines Handelns vor seinen Mitmenschen zu verheimlichen, weil er das Gefühl hat, daß er sich innerlich von der Gemeinschaft loslöst, ja fich in Gegensaß zu ihr stellt.

Wie der kategorische Imperativ, der gesetzmäßiges Wollen : verlangt, zurückgeführt werden kann auf die Wertschäßung der Gesetzmäßigkeit und damit zugleich auf die der Gemeinschaft, so leitet auch die Frage, was wir denn im einzelnen Fall als allgemeines Gesetz wollen können, auf unser Werterleben zurück. Man darf diese Frage in allgemeiner Form wohl dahin beantworten: wir können als Gesetz wollen, daß jeweils der höchste Wert oder (wenn wir lediglich zwischen Unwerten zu

wählen haben) der geringste Unwert verwirklicht werde. Es ist nämlich eine bedeutsame Eigentümlichkeit unseres Werterlebens, daß uns nicht nur gewisse Werte als Selbstwerte unmittelbar einleuchten, sondern daß dies auch für den Rang von Werten gilt. Indem wir nun die Wahl vornehmen, geleitet von dem Gedanken an Geseß und Gemeinschaft und darum bemüht, so zu entscheiden, daß unsere Wahl, unser Entschluß wirklich als „richtig“, als objektiv gültig sich darstelle, sind wir bewahrt vor der selbstsüchtigen Einengung, bei der das den Vorzug erhält, was lediglich für den Wählenden selbst wertvoll oder nüßlich ist.

Vom Begriff des Wertes aus verstehen wir aber auch am tiefsten den Sinn aller Kultur. Auf allen ihren Gebieten: Wissenschaft und Kunst, Recht und Religion, Gesundheitspflege und Erziehung, gilt es, Werte zu verwirklichen. Der Grundgedanke des kategorischen Imperativs und damit aller Sittlichkeit wäre nach unserer Deutung die Forderung, daß der Einzelne sich in die Kulturgemeinschaft einordne, sich mitverantwortlich für sie fühle und bemüht sei, jeweils in der Richtung auf die höchstmögliche Förderung der Kulturwerte zu handeln. Je selbstloser er sich dieser hingäbe, um so höher stünde der Wert seines Wollens und seiner Persönlichkeit. Nicht die Erfolge seines Tuns, nicht die Bedeutung seiner kulturellen Leistungen wären für seinen sittlichen Wert entscheidend, sondern sein Wollen. Es bliebe bei jenem grundlegenden Werturteil Kants: daß der gute Wille allein unbedingten Wert hat.

Wir sind uns bewußt, die Ethik Kants fortzubilden, wenn wir von dem Begriff des Gesetzes und des Imperativs, die

ür ihn die lehten find, noch einen Schritt weiter gehen zum Begriff des Wertes und in diesem dann den Grundbegriff er Ethik sehen. Aber wir glauben gezeigt zu haben, daß diese Fortbildung durchaus dem Geiste der Kantischen Ethik entpricht, die ja ihrerseits auf einem grundlegenden Werturteil beruht: nämlich der absoluten Schäßung des guten Willens. Dieser aber hat sich als gleichbedeutend erwiesen mit dem gesehmäßigen, dem autonomen, dem wahrhaft freien Willen und mit dem Willen zur Gemeinschaft.

Aber noch nach einer anderen Richtung können wir einen Schritt über Kant hinaus tun. Er war ein Kind seiner Zeit, der Aufklärungsperiode, sofern er einseitig auf das Allgemeine eingestellt war. So hat man denn auch nicht mit Unrecht ver nißt, daß er in seiner Ethik der Individualität Rechnung rage. Schon Schleiermacher 1 hat dies mit Nachdruck gegen hn geltend gemacht.

Indessen, wenn es auch Kant fernlag, bewußtermaßen darauf Rücksicht zu nehmen, so zeigt sich doch die Genialität und Weite seiner ethischen Grundgedanken darin, daß diese Beichtung des Individuellen sehr wohl mit seiner Formulierung des kategorischen Imperativs vereinbar ist.

Wenn der Einzelne sich über sein Verhalten zu entscheiden þat, so kommen dafür doch auch individuelle Momente in seiner Person wie in seiner Lage in Betracht. Er muß sich etwa fragen : kannst du als allgemeines Gesetz wollen, daß Menschen, die diese Eigenschaften, Fähigkeiten usw. haben, die in diesen

Vgl. meine Ausgabe von Schleiermachers „Monologen" im Verlag Strecker und Schröder, Stuttgart 1923.

[blocks in formation]
« PreviousContinue »