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507

Wahrheit und Dichtung in unsrer Religion.

Von

P. Lobstein 1).

Verehrte Herrn, liebe Brüder!

Der zuweilen mit geräuschvoller Reklame geführte, im letzten Grunde jedoch von religiösen und wissenschaftlichen Interessen ge= tragene Streit über Bibel und Babel hat, soweit es sich um gesicherte Ergebnisse handelt, nichts wesentlich neues ans Licht gefördert; er hat aber manche Fragen wieder in Fluß gebracht, manche Probleme in ein neues Licht gerückt. Zu diesen gehört auch unser Thema. Ohne Zweifel bringt die Formulierung desselben Gefühle und Gedanken zum Ausdruck, die den meisten von Ihnen schon nahe getreten sind. Sie bedürfen nicht erst dieses Referates, um zu erkennen, daß hier für die Theologie ein ernstes Problem vorliegt, dem wir ins Gesicht sehen müssen, und daß dieses Problem der Kirche eine Aufgabe stellt, die unmittelbar ins praktische Leben eingreift und auch das Interesse derer in Anspruch

1) Referat vorgetragen in Straßburg, am 31. Mai 1904, auf der allgemeinen Pastoralkonferenz von Elsaß-Lothringen. Das Referat wird hier abgedruckt, wie es der Konferenz vorgelegt wurde; die wichtigsten Einwendungen, die während der Diskussion erhoben wurden, finden in einigen Anmerkungen Berücksichtigung; hoffentlich sind damit die wünschenswerten Ergänzungen wenigstens angedeutet, sowie die durch den Ref. verschul deten Mißverständnisse beseitigt.

nimmt, die sich für rein theoretische Fragen nicht zu erwärmen vermögen.

Sie dürfen deshalb auch nicht die Erwartung hegen, daß Ihnen in der Darlegung dieses Gegenstandes Neues geboten werde. Mein Zweck wäre erreicht, wenn ich Raum schaffen könnte für eine fruchtbare Diskussion, deren Elemente in Kürze vorzulegen sind. Daß aus diesen Verhandlungen Förderung und Gewinn zu erhoffen ist, darf um so eher angenommen werden, als es sich doch nicht in erster Linie um prinzipielle Erörterungen handelt, sondern um praktische Folgerungen und Anwendungen wichtiger religiöser und theologischer Grundsähe. Nicht ein Kapitel aus der Religionsphilosophie, sondern einen Beitrag zur praktischen Theologie soll dieses Referat liefern. Auf diesem Gebiete bin ich der Lernende, und ich werde mit aufrichtigem Dank mich von Männern belehren lassen, die mit den lebendigen Bedürfnissen unserer Gemeinden unmittelbare Fühlung haben und denen Erfahrungen zu Gebote stehen, die mir fehlen.

Um einen anregenden Gedankenaustausch in weitestem Umfang zu ermöglichen, wird es mein Bestreben sein, mich kurz zu fassen. Sie werden mir gestatten, oft nur andeutend, nicht ausführend zu verfahren. Auf eine Reihe von religionsphilosophischen und religionsgeschichtlichen Problemen, die mit unserem Gegenstand zusammenhängen, kann von vornherein nicht eingegangen werden. Wie verhält sich der religiöse Trieb zum ästhetischen? Wie stellt sich das religiöse Leben in seinen verschiedenen Arten und Stufen dar? Was ist Offenbarung? Worin liegt die Bedeutung des Historischen im Christentum? Wollten wir zunächst diese prinzipiellen Fragen zu beantworten suchen, so kämen wir überhaupt nicht mehr dazu, das Thema zu behandeln, auf welches es uns ankommt. Indessen, wenn wir auch eine solche vorbereitende Auseinandersetzung nicht vorausschicken können, wird hoffentlich der folgende Bericht darum nicht in der Luft schweben; wird es doch leicht zu erkennen sein, daß er auf bestimmten Voraussetzungen beruht, die eine Stellung zu jenen Problemen in sich schließen. Nicht um einer prinzipiellen Erörterung aus dem Wege zu gehen,

sondern um den Hauptgegenstand unverkümmert zur Geltung zu bringen, beschränkt sich unser Referat auf die in den Thesen ausgesprochenen Gedanken. Diese zu erschöpfen, wird allerdings nicht möglich sein: sie bestimmt zu formulieren, die in ihnen enthaltenen Elemente scharf herauszuarbeiten, die Grundfrage dadurch zu erweitern und zu vertiefen, dazu zähle ich auf Ihre Mitarbeit.

Ein solches Zusammenwirken erheischt selbstverständlich die rückhaltloseste Offenheit in der gegenseitigen Aussprache. Hier ist die Klarheit nicht nur eine elementare wissenschaftliche Forderung, sie muß sich vielmehr zur sittlichen Tugend der Aufrichtigkeit und der Ehrlichkeit vertiefen.

Sie würden es mir, verehrte Herrn und Brüder, nicht verzeihen, wenn ich es vergessen könnte, daß ich es nicht mit Laien zu tun habe, denen in den meisten Fällen die Voraussetzungen für ein wissenschaftliches Verständnis der religiösen Probleme fehlen, sondern daß ich zu theologisch gebildeten Dienern unsrer evangelischen Kirche rede, die zwar verschiedenen Richtungen angehören und mancherlei Auffassungen vertreten, alle aber in der einen Ueberzeugung sich begegnen, die der große Religionsforscher Mar Müller ausgesprochen hat: „Wahr sein ist besser als alle Wahrheiten besitzen!"

Und nun zur Sache!')

1) 1. Im Gegensatz zum abstrakten Verstandesrigorismus einer dogmatistischen Orthodoxie und eines geschichtslosen Rationalismus muß die psychologische und geschichtliche Notwendigkeit dichterischer Gebilde zur Darstellung und Fortpflanzung religiöser Vorgänge offen und rückhaltlos anerkannt werden.

2. Der Wert dieser dichterischen Gebilde ist durch die jeweilige Art und Stufe der Religion bedingt, auf deren Boden sie erwachsen sind.

3. — Auf dem Boden der Naturreligionen betätigt sich der religiöse Trieb in der Personifikation der Naturkraft und in der darauf beruhenden Dramatisierung der Naturphänomene, vor allem der Himmelserscheinungen.

4. Auf dem Boden der historischen Religionen ist der Stoff der religiösen Phantasietätigkeit durch ethische, in der Geschichte wirksame Faktoren bedingt, ohne daß auf dieser Stufe das Hereinragen und Nachwirken der sonst prinzipiell überwundenen Naturreligionen ausge

Unter den Seelenvermögen des Menschen ist das erste, das im Geistesleben erwacht, die Einbildungskraft. Diese Priorität der Phantasie, an deren Betätigung von Anfang an das Gefühl einen wesentlichen Anteil hat, zeigt sich sowohl im Leben des einzelnen als in dem der Völker. Wir lernen früher mit der Phantasie und dem Gefühl erkennen als mit dem Verstand, wir ahnen früher als wir denkend erkennen. Die Völkerpsychologie bestätigt die Beobachtungen und Erfahrungen aus dem Einzelleben. Jede Geschichte beginnt mit Sagen, jede Literatur hebt an mit Liedern: immer und überall erscheint die Poesie vor der Prosa.

schlossen wäre. So haben mancherlei aus der babylonischen Mythologie stammende Elemente in der prophetischen Religion Israels eine Umbiegung des Naturhaften ins Ethische und eine Auflösung des Polytheistischen ins Monotheistische erfahren.

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5. Auf dem Boden der alttestamentlichen Prophetenreligion sind deshalb auch, sei es unter dem Gewande absichtslos dichtender Volkspoesie, sei es in der Form planvoll arbeitender Kunstdichtung, der Menschheit Kenntnisse vermittelt worden, in denen das religiös empfängliche Gemüt göttliche Offenbarungen wahrzunehmen genötigt ist.

6. — Auf dem Boden des Christentums stellt sich die Synthese religiöser Wahrheit und dichterischer Einkleidung in einem großen Reichtum verschiedener Formen dar: dafür zeugen nicht nur die Gleichnisse Jesu und die Allegorien der neutestamentlichen Schriftsteller, sondern auch wichtige Bestandteile der evangelischen Ueberlieferung, die zwar nicht als historisch wirklich gelten können, darum aber doch als religiös wahr zu werten sind.

7. Die richtige Verhältnis bestimmung von Wahrheit und Dichtung in unsrer Religion darf den Anspruch erheben, einen wesentlichen Beitrag zur Apologie des Christentums zu liefern, sofern sie den unserer Zeit sich aufdrängenden Konflikt zwischen dem Respekt vor der geschichtlichen Wirklichkeit und der Pietät gegen die religiöse Ueberlieferung zu schlichten vermag. Von den berufsmäßigen Vertretern der christlichen Religion ist deshalb eine prinzipielle Einsicht in diesen Sachverhalt zu fordern.

8. Die hier vertretene, in der Konsequenz des reformatorischen Glaubensprinzips liegende Erkenntnis, welche zugleich eine geistige Befreiung und eine religiöse Bereicherung und Vertiefung mit sich führt, muß soweit als möglich von den Leitern und Lehrern der Kirche durch alle pädagogisch entsprechenden Mittel unsern Gemeinden zugänglich gemacht werden.

Ebenso verhält es sich mit dem religiösen Erkennen. Es tritt zunächst als phantasiemäßiges Erkennen, als religiöses Ahnen auf: die Gottesahnung ist unsere früheste religiöse Erkenntnis. Sobald sich dieses elementare religiöse Erkennen in der Geschichte objektiviert, schafft es sich eine Darstellung, die noch den Stempel der Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit an sich trägt; diese Darstellung hat notwendigerweise einen symbolischen Charakter: nur in der Gestalt des Bildes ist der religiöse Vorgang dem Kindergemüt überhaupt erreichbar und verständlich 1).

In diesem Sinne muß gesagt werden, daß die Mythologie die elementarste Form der religiösen Entwicklung der Völker bildet 2). Dieser Ausdruck hat hier keinerlei üble Nebenbedeutung. Es ist ein Beweis oberflächlichster Verständnislosigkeit und ödesten Intellektualismus, wenn man daran Anstoß nimmt, daß die religiösen Gedanken nicht zunächst in der Gestalt abstrakter Begriffe, sondern im Gewand poetischer Bilder und Symbole ihren Gang durch die Geschichte halten. Und doch fällt es so vielen unendlich schwer die psychologische und historische Notwendigkeit dieses geistigen Prozesses einzusehen. Es ist als ob die gewaltige Geistesarbeit der großen Denker und Forscher, die sich in das „religiöse Mysterium" vertieft haben, spurlos an den meisten unter unserm Geschlecht vorübergegangen sei. Vergeblich hat Hamann seinen Protest gegen die einseitige Herrschaft des Verstandesrigorismus erhoben, welcher die Wahrheit nur als abstrakten Begriffsformalismus zu besitzen wähnt; vergeblich hat Herder auf die geheimnisvollen Tiefen der Volksseele hingewiesen, aus welcher die Lieder hervorquellen, die uns die Eigenart des religiösen und poetischen Gemüts mit ergreifender Naivetät offenbaren; vergeblich haben Otfried Müller die Anfänge der griechischen Kultur, Niebuhr die Ursprünge der römischen Geschichte auf ihre sagenhaften Bestandteile untersucht, - das intellektualistische Vorurteil eines geschichts

1) Sabatier, Esquisse d'une philosophie de la religion d'après la psychologie et l'histoire, Paris 1897, pg. 34 suiv. (deutsche Uebersetzung von Dr. Baur, S. 27). Rothe, Zur Dogmatik 18692, S. 4-5.

2) Heyne: A mythis omnis priscorum hominum cum historia tum philosophia procedit. Strauß, Das Leben Jesu kritisch bearbeitet, I, 28.

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