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Kant und die Theologie der Gegenwart 1).

Von

Mar Reischle.

Die hundertjährige Gedächtnisfeier von Kants Todestag ist nicht nur in philosophischen Kreisen begangen worden; auch theologische Zeitschriften und Kirchenblätter haben das Andenken des Philosophen erneuert. - Mit gutem Grund! Denn tatsächlich ist Kants Einfluß auf die Theologie und deren Entwicklung ein sehr bedeutender gewesen. Nur gewesen? Oder hat Kants Gedankenarbeit ihren unmittelbaren Wert auch noch für die Theologie der Gegenwart? Und inwieweit hat sie ihn? Angesichts des Aristoteles, des magister in temporalibus, stellte einst die mittelalterliche Theologie die Frage, inwieweit über ihn ein „tenetur“ oder „non tenetur" ausgesprochen werden müsse. Uns drängt sich beim Gedanken an Kant eine ähnliche Frage auf.

Um uns darüber Rechenschaft zu geben, vergegenwärtigen wir uns zuerst Kants Gedankenwelt. Wohl ist das nur Erinnerung an Bekanntes! Aber diese Erinnerung mag dazu dienen, in freier, aber doch hoffentlich der Sache nach getreuer Darstellung gewisse Hauptpunkte so zu beleuchten, daß ihre Bedeutung klar hervor

1) Dem Folgenden liegt ein Vortrag zu Grunde, den ich am 13. April 1904 in Chemnitz auf der „sächsischen kirchlichen Konferenz" gehalten habe. Der Vortrag ist in freier Weise wiedergegeben, an manchen Stellen auch erweitert. Dankenswerte Anregung zur Verdeutlichung einzelner Punkte gaben in der Debatte besonders Herr P. prim. Dr. Kaßer und Herr Professor D. Mehlhorn.

Zeitschrift für Theologie und Kirche. 14. Jahrg., 5. Heft.

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tritt. Dann mag sich weiter die Frage anschließen, wie weit auch heute noch diese Gedanken in Kraft stehen und in der Theologie verwertbar sind.

I.

Um die Antwort auf diese Frage vorzubereiten, können wir in Kants Gedankenwelt die zwei Seiten unterscheiden, die bei allen großen Geistern der menschlichen Geschichte uns entgegentreten: einerseits den Zusammenhang seines Denkens mit der Vergangenheit, andererseits seine Originalität.

1. Gerade bei den großen Denkern kann jene Anknüpfung an die Vergangenheit am wenigsten fehlen: nicht nur in fühnen intuitiven Ideen kann das menschliche Denken voranschreiten; sondern auch, wo sie aufleuchten, muß sich damit die diskursive Arbeit eines Durchdenkens des schon zur Ueberlieferung gewordenen Wissens- und Begriffsmaterials verbinden. Dabei werden geläufige Fragestellungen, geprägte Formen und Schemata, eingebürgerte Denkweisen, ja, sofern das Denken aus dem gesamten Geistesleben hervorwächst, überhaupt Geistesrichtungen der Vergangenheit mit übernommen. So ist es auch bei Kant. So ist es auch bei Kant. Nach der einen Seite ist er durchaus Sohn seiner Zeit. Wenn wir mit unsern heutigen religiösen Anschauungen, Interessen und Stimmungen in Kants Gedankengebäude eintreten, so finden wir uns von einer fremden Luft umweht, von Luft der Aufklärung. Wir fühlen uns hier von jener großen geistigen Strömung berührt, die, längst vorbereitet und sicher, wenn auch allmählich und ungleichmäßig vorwärtsdringend, im 18. Jahrhundert innerhalb der christlichen Kulturnationen die gebildeten Kreise ergriff. Vorher war die Bildung in weitem Umfang bestimmt durch die Kirche. So stand es besonders in katholischen Territorien, wo nach den Schwanfungen, welche die Reformation und schon die Renaissance gebracht, eine Restitution der katholischen Denkweise stattgefunden hatte; aber auch in evangelischen Landen hatte zusammen mit einem Niederschlag reformatorischer Gedanken eine aus humanistischen. und biblischen Traditionen gebildete, kirchlich legitimierte Welt- und Lebensanschauung sich festgesetzt. Die Aufklärung bedeutete das

Emporkommen einer weltlichen Bildung, die sich von der kirchlichen Bevormundung emanzipierte. Nicht nur in der gelehrten Welt breitete sie sich aus, in der sie schon längst ihre Pflege gefunden hatte, sondern sie erfaßte, getragen von der allgemein bildenden und schöngeistigen Literatur, um die Mitte des 18. Jahrhunderts mehr und mehr die Kreise der Gebildeten überhaupt.

Grundlegend für die neue Bildung war die Naturwissenschaft: das Weltbild des Kopernikus, die astronomische Anschauung von der Himmelswelt, der Gedanke des Naturgesetzes wurde jetzt erst eine Macht im Geistesleben der Zeit. Daneben prägte die auflebende pragmatische Geschichtsforschung die Ueberzeugung ein, daß auch in allem geschichtlichen Werden natürliche Ursachen, oft allerlei kleinliche und zufällige Umstände, menschliche Schwachheiten, Irrtümer und Torheiten, ihre mächtige Rolle spielen. Auf dieser Grundlage der empirischen Wissenschaften aber versuchte man eine vernünftige Gottes- und Weltanschauung aufzubauen; oder vielmehr auf Grund jener wissenschaftlichen Daten wurde die christlich-theologische Gottesund Weltanschauung zu den Gedanken einer natürlichen oder vernünftigen Religion verdünnt. An den Ideen der Freiheit und Unsterblichkeit hielten, wenigstens in Deutschland, die meisten Aufklärer fest, ja sie suchten ihnen erst die rechte Sanktion durch den Nachweis ihrer Vernünftigkeit zu geben. Ebenso blieb die Idee Gottes in Geltung; nur erhielt sie eine deistische Wendung, indem die Welt als gesetzmäßig geordnete betrachtet wurde. Aber dabei behauptete sich doch die teleologische Ueberzeugung von der Nüglichkeit der Welt und ihrer Einrichtung für den Menschen. Der Ruf nach Vernünftigkeit“ und „Natürlichkeit" erscholl aber nicht nur in der Wissenschaft und Religion, sondern wurde auf allen Gebieten des praktischen Lebens erhoben: „vernünftige Rechtslehre“ oder „Naturrecht" als Maßstab alles bestehenden Rechts, vernünftige Ordnung der ganzen menschlichen Gesellschaft, vernünftige oder natürliche Moral statt der autoritativen Kirchenmoral.

Auch Kant ließ sich von dieser Bewegung tragen und wußte sich selbst mit Stolz als Träger der Aufklärung. Der

Sechzigjährige beantwortete die Frage: Was ist Aufklärung?" (1784) dahin: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit . . . Sapere! aude Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ist also der Wahlspruch der Aufklärung". Das Zeitalter der Aufklärung ist angebrochen mit Friedrich dem Großen. Denn wenn der Einzelne auch auf seinem bürgerlichen Posten oder in seinem Amte seinen Vernunftgebrauch und seine Kritik einschränken muß, so ist doch in der öffentlichen literarischen Verhandlung die volle Freiheit des Räsonnierens gegeben, auch in Religionssachen. Kant selbst fühlte sich heimisch in diesem Zeitalter.

Es war aber nicht nur im allgemeinen der Grundsatz der Freiheit des Denkens und öffentlichen Verhandelns wissenschaftlicher Fragen, der ihm dieses Gefühl gab, sondern seiner ganzen Richtung nach war Kants Denken mit der Aufklärung nahe verwandt. Kants Ziel war, wie das der Aufklärung, eine auf reinen Vernunftgrundsäßen aufgebaute Wissenschaft. Und auch in der kritischen Periode seines Philosophierens ist überall die Frage nach den allgemeingültigen und notwendigen Elementen. des menschlichen Denkens leitend. Ebenso wie die Aufklärer suchte er ferner die Grundsäge einer vernünftigen Moral und eines vernünftigen Rechtes herauszuarbeiten, als Maßstab alles empirisch gegebenen sittlichen und rechtlichen Lebens. Was sich in diesem nicht als vernunftgemäß rechtfertigen läßt, hat auch nach Kant kein Daseinsrecht, ob es auch geschichtlich geworden ist und werden mußte. Auch in den Fragen der Religion war Kants Denken darauf gerichtet, jene drei Ideen, „Freiheit, Unsterblichfeit, Gott", vor dem Richterstuhl der Vernunft zu prüfen und sie womöglich als vernunftgemäß zu erweisen. Alle geschichtlichen Religionen hat Kant nur darauf angesehen, wie weit sie jenen vernünftigen Ideen, ob auch in mancherlei Hüllen, zum Ausdruck dienen und dem moralischen Leben zur Förderung gereichen.

Zwar hat neuerdings E. Tröltsch in einer scharfsinnigen und stoffreichen Arbeit über „das Historische in Kants Religionsphilosophie" mit Recht darauf hingewiesen, daß Kant mehr, als man in der Regel weiß und beachtet, sich für die Religions

geschichte interessiert und mit ihr beschäftigt hat. Auf Grund dieses Nachweises bekämpft Tröltsch besonders den Sah, daß die Aufklärung und mit ihr auch Kant des historischen Sinnes" ermangelt habe. Aber soviel bleibt von diesem Sah doch bestehen: das Geschichtliche hat für Kant nur insoweit Bedeutung, als es Introduktions- und Illustrationsmittel für die Vernunftreligion ist; es verliert nach Kant seine Bedeutung für den einzelnen in dem Maß, als er selbst die Ideen der Vernunftreligion in ihrer inneren Wahrheit erkennt und als Regulativ seines Lebens anerkennt. Kant hatte wohl die klare Einsicht, daß die Vernunftreligion nur in geschichtlicher Entwicklung von niederen Anfängen aus werden konnte und daß auch durch die Mythologien der Religionen unbewußt die religiöse Idee sich einen Ausdruck verschafft"; aber es fehlte ihm das Verständnis für das, was Goethe in seinen Maximen und Reflexionen I (Cottasche Ausgabe 1874 in 15 Bänden, Bd. 2 S. 516) in die Worte faßt: „Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt". Es fehlte ihm darum auch das volle Verständnis für die Bedeutung des Geschichtlichen in der Religion, nämlich dafür, daß eine Frömmigkeit wie die christliche nicht nur geschichtlich ge= worden ist, sondern aus der Geschichte dauernd ihr Leben und ihre Begeisterung schöpft. In dieser Richtung allein, in dieser aber auch wirklich, hat Kant des geschichtlichen Sinnes" ermangelt. Zu seiner Zeit freilich wurde das von den meisten nicht als Mangel empfunden. Lag doch gerade darin ein starkes Band, das Kant mit der Aufklärung verband.

So hat denn die Aufklärung ihn freudig als einen der ihrigen begrüßt. Sie hat es an Ehrungen des Philosophen nicht fehlen lassen: nicht nur Studenten haben ihn angedichtet, auch die Gelehrten schauten mit Ehrerbietung zu ihm auf. Aber seine wahre Größe liegt für uns vielmehr an den Punkten, an denen er über seine Zeit hinausgeschritten ist und für die Zukunft neue Wege gebahnt, darum auch manches bedenkliche Kopfschütteln seiner Zeitgenossen erregt hat.

2. Was waren jene neuen, eigenartigen Gedanken, die schon damals Aufsehen, auch Widerspruch erregten? Sie liegen

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