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taneität des Lebendigen in dem Sichaufarbeiten und Hinaufdrängen bereits eine Vorabschattung gebend dessen, was einmal als menschliche Freiheit, Selbstbestimmung und Geistesentwicklung erscheinen soll. - Daß solche Fichtesche Weltbetrachtung durch „Phantasie" gewonnen ist, ist gewiß. Aber phantasiemäßig ist jede Weltdeutung. Was sind Atome, Moleküle und „Kräfte", was sind concursus und influxus anderes? „Ihr werdet es wissen, daß eure Phantasie es ist, welche für Euch die Welt erschafft“. Gewiß ist auch, daß Religion eines solchen phantasiemäßigen Abschlusses der Weltanschauung nicht bedarf, wenn ihr gewährleistet ist, was oben angegeben war. Sucht sie ihn aber, so wird sie ihn in dieser Richtung finden. Und die heutige Naturerkenntnis

kann sie daran nicht hindern, die heutige Ueberwindung des Mechanismus in der Lebenslehre leistet ihr dabei Vorschub.

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Zur Dogmatik.

Von

Julius Kaftan.

C. Einzelne Lehren.

7. Die Paulinische Predigt vom Kreuz Jesu Christi.

Vorbemerkung.

Es wird zunächst eines Wortes der Erklärung bedürfen, daß ich dieser Reihe von Aufsätzen zur Dogmatik einen mit wesentlich neutestamentlichem, biblisch-theologischem Inhalt einfüge. Die erste Veranlassung dazu ist eine äußerliche. Was die folgenden Blätter bieten, ist im Wesentlichen die Vorlesung, die ich beim Berliner Ferienkurs im Frühjahr 1901 gehalten habe. Die wiederholt an mich ergangene Aufforderung, sie drucken zu lassen, habe ich damals abgelehnt. Es schien mir bei den üblichen Gepflogenheiten nicht angängig, die Vorlesungen als einen Beitrag zur biblischen Theologie zu veröffentlichen, ohne sie nicht wenigstens in Anmerfungen nachträglich mit dem gewöhnlichen Registrierapparat aller jemals geäußerten beachtenswerten Meinungen und kritischer Auseinandersetzung mit ihnen auszurüsten. Dazu aber empfand ich nicht die mindeste Neigung, wie ich denn fürchten muß, daß es mir wie an der rechten Aufnahmefähigkeit für diesen Teil der gelehrten Arbeit, so auch an der Gabe fehlt, darin etwas Förderliches zu leisten. Dagegen meine ich verantworten zu können, wenn ich diese Betrachtungen hier ohne alle solche Zuthaten veröffentliche,

Zeitschrift für Theologie und Kirche. 14. Jahrg., 4. Heft.

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wo es sich ausgesprochenermaßen darum handelt, wie wir unsere Dogmatik gestalten sollen. Diesem Zweck entsprechend ist auch der ursprüngliche Text in einzelnen Partien nicht unwesentlich verändert worden. Der Titel der Vorlesungen hatte den Zusah: und ihre Bedeutung für unsere Predigt! Was sich nun darauf bezog, ist hier weggefallen und die Beziehung auf die Dogmatik an die Stelle getreten. Nur daß dies in der Ueberschrift hervorzuheben überflüssig erschien, da es in dem Gesamttitel aller dieser Auffäße zum Ausdruck kommt. Wobei ich nicht unerwähnt lassen will, daß diese Aenderung mehr formaler als sachlicher Art ist, da nach meiner Auffassung Dogmatik und Predigt sich nahe berühren.

Aber natürlich genügt dies jezt Hervorgehobene nicht zur Rechtfertigung meines Unternehmens. Die liegt erst darin, daß es mir Bedürfnis war, die biblisch-theologischen Erörterungen meiner Dogmatik in diesem Punkt, wo sie nicht lediglich Verwertung anerkannter Resultate sind, etwas näher auszuführen und zu begründen. Ich habe dabei einen doppelten Gegensatz im Auge. Einmal die Ansicht und Praxis derer, die nach wie vor die Säße der kirchlichen Dogmatik aus dem Neuen Testament und namentlich auch aus den Paulinischen Briefen entnehmen. Vor allem aber die übliche Meinung, die Paulus zum Dogmatiker stempelt, ob sie es ihm nun zur Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit rechnet, welche Meinung mir als ein Vorurteil erscheint. Könnte ich ein wenig dazu beitragen, dies Vorurteil zu entwurzeln, würde es mir zur großen Befriedigung gereichen. Also im Gegensah zu diesen beiden Ansichten möchte ich erstens zeigen, daß man Paulus mißversteht, wenn man ihn vor allem als Dogmatiker nimmt, und zweitens darlegen, was und wie wir trotzdem in der Dogmatik von Paulus lernen können und sollen.

Mit dem zuletzt Gesagten hängt ein Zweites eng zusammen, was hier in der Vorbemerkung mit ein paar Worten erklärt werden muß. Dies nämlich, daß ich als Thema die Paulinische Predigt vom Kreuz Christi genannt habe. Wir sagen statt dessen gewöhnlich: die Lehre des Apostels vom Kreuz. Und das, was man gewöhnlich so nennt, ist hier gemeint. Aber warum denn Predigt und nicht Lehre? Die Wahl des Wortes könnte als

eine bloß zufällige erscheinen, etwa dadurch bedingt, daß in der zu Grunde liegenden Vorlesung eine Zusammenstellung der Paulinischen Verkündigung mit unserer heutigen Predigt die praktische Spize bildete.

So jedoch verhält es sich nicht. Mit bewußter Absicht ist, was Paulus uns über das Kreuz des Heilands sagt, als Predigt und nicht als Lehre charakterisiert. Nicht als sollte beides einander überhaupt gegenübergestellt werden. Eine Predigt, in der nicht gelehrt wird, entspricht ihrem Zweck nicht: man kann nichts Bleibendes daraus mitnehmen. Aber der Unterschied ist doch kein geringer.

Sagte ich: die Lehre des Apostels, so wäre damit vorausgesezt, daß seine Gedanken und Aussprüche über das Kreuz des Herrn eine theologische Einheit darstellten. So also, daß er über eine einheitliche Lehre vom Kreuz verfügt hätte, und die wäre nun bei allen seinen Ausführungen über den Gegenstand die für ihn selbstverständliche, stillschweigende Voraussetzung. Dann stellte sich die Aufgabe so, daß wir aus diesen seinen Ausführungen die zu Grunde liegende einheitliche Lehre zu ermitteln hätten.

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Eben dies jedoch halte ich für falsch. Die Gedankenwelt des Apostels Paulus ist keine theologische Einheit. Sie ist es überhaupt und im Ganzen nicht. Sie ist es auch nicht, was diesen einen, ihren wichtigsten Gegenstand, das Kreuz des Herrn, betrifft. Wohl aber ist sie eine religiöse Einheit. Neue große Denk- und Lebensformen — und eine solche ist es, die uns bei Paulus entgegentritt sind zwar nie eine vollkommene Einheit. Das können sie nicht sein, da sie nach rückwärts und vorwärts blicken, ihre tiefen Wurzeln in allem Vorangegangenen haben und mit ihren Fühlfäden in die fernste Zukunft reichen. Aber mit diesem Vorbehalt gilt, daß die Gedanken des Apostels eine religiöse Einheit sind. Im Ganzen – und so auch was das Kreuz des Herrn betrifft. Eben deshalb aber sind sie nicht eine theologische, dogmatische Lehre, sondern ein Evangelium, eine Predigt, und ist dieser Name der eigentlich zutreffende. Als Predigt müssen sie gewürdigt und dargestellt werden.

Danach muß sich dann auch das Verfahren richten. Wir

suchen nicht in allen Aeußerungen eine ihnen zu Grunde liegende einheitliche Lehre. Statt dessen suchen wir die einzelnen Gedanken und Gedankengruppen da auf, wo sie im Zusammenhang mit dem persönlichen Glauben und Erleben des Apostels entstanden sind. Der Herr ist ihm vor Damaskus erschienen, daher stammt alles, was uns Paulus zu sagen hat. Wir werden es nur richtig verstehen, wenn wir es in dieser seiner Genesis begreifen, und die Gedanken dadurch für uns lebendig werden.

Freilich gewinnen wir so zunächst Gedankenreihen, Gedankengruppen, die zwar in der religiösen Wurzel zusammenhängen, aber als theologische Deutungen des Todes Christi neben einander stehen und unter sich disparat sind. Dann mag zum Schluß eine einheitliche Zusammenfassung versucht werden. Nicht in dem vorhin abgewiesenen Sinn, als wäre diese Einheit bei Paulus die immer vorhandene Voraussetzung gewesen, sondern nur im Sinn einer Frage, ob etwa? ob sich für Paulus selbst eine solche Zusammenfassung als ein gelegentlich Lettes, mit dem Gedanken Gestreiftes ergeben hat? So also, daß der Schwerpunkt durchaus in den einzelnen Gedankenreihen liegt. Wie denn auch nur in ihnen gesucht werden kann, was für die Dogmatik heute so oder so von Bedeutung ist.

Dies Verfahren tritt aber in einen gewissen Gegensatz zu dem, was üblich ist. Es sind erst die Ansätze zu einer neuen Betrachtungsweise da. Ueblich ist immer noch ganz überwiegend das oben zurückgewiesene Verfahren, eine einheitliche Lehre bei Paulus zu suchen. Die einen halten ihn für einen Zeugen der anselmischen, kirchlichen Versöhnungslehre. Besonders in der Praxis ist es so das Gewöhnliche. Auch in der Theologie, namentlich bei den Dogmatikern, begegnet es noch oft genug. Immerhin überwiegt hier die geschichtliche Methode. Aber auch deren Vertreter sind insofern noch vielfach an das alte Vorurteil gebunden, als es eine Lehre, eine Dogmatik oder eine Religionsphilosophie ist, die sie bei Paulus ermitteln und als Paulinisch darstellen. So gilt es z. B. selbst von Holzmann, nach dessen Auffassung Paulus von teils jüdischen, teils hellenischen Voraussetzungen aus ein merkwürdig verwickeltes System der Religionsphilosophie er

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