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Fassen wir zusammen, was wir von den babylonischen Ausgrabungen lernen:

1) Die Keilinschriften machen uns die Geschichte Israels lebendig und hell; sie zeigen, wie das Bauernvölkchen der Israeliten auf dem babylonischen Kulturboden aufwuchs, wie es in die Weltpolitik der Großmächte hineingezogen wurde, wie es sich tapfer wehrte und wie es tapfer unterlag.

2) Die Keilinschriften lehren uns ferner, daß das Volk Israel auch in kultischer und religiöser Hinsicht manches von dem großen und älteren Bruder übernahm; wir sind dankbar dafür, daß wir einige Vorlagen biblischer Berichte kennen lernten; wir werden dadurch aufgefordert, das Menschliche und das Göttliche an der biblischen Geschichte zu unterscheiden, die menschliche überkommene Form und den göttlichen prophetischen Geist, der die babylonische Form original und meisterlich behandelte.

3) Wir können gerade aus den Keilinschriften beweisen, daß die prophetische Religion Israels etwas Einzigartiges war und daß dieses Einzigartige aus Babel nicht erklärbar ist; vielmehr ruht es auf der Selbsterschließung und auf der eigenhändigen Erziehung Gottes. Für die Bibel dienen also die Keilinschriften mehr indirekt als direkt, mehr in Peripherischem als in Zentralem; weitaus das Wichtigste, was wir von den Ausgrabungen lernen, liegt

4) auf dem Gebiet der Profangeschichte und der Profankulturgeschichte. Hier haben die Keilinschriften bis jetzt schon Großes geleistet. Sie wecken einen Toten auf, der Jahrtausende lang im Schlaf lag. Dieser Tote ist die alte babylonische Kulturmacht; wir sehen mit Staunen, wie schon zwischen 4000 und 3000 vor Chr. eine gewaltige Kulturwelt lebte und wirkte, weithin sich ausbreitete und in manchen Erbstücken bis jetzt noch fortdauert. Diese Kulturwelt ist für uns interessant auch ganz abgesehen von der Bibel und von der Beziehung zu Israel; wir haben so viel Freude an der Geschichte, daß wir sie um ihrer selbst willen, nicht bloß um der Religion willen betrachten. Es gelüftet den menschlichen Geist, alle Fernen des Weltalls zu erkennen, von einem Pol zum andern, es gelüftet ihn gleichermaßen, alle Fer

nen längst vergangener Zeiten zu ergründen und bis zu den Anfängen des Menschengeschlechtes grabend und tastend vorzudringen. Und weil die Kunde von den babylonischen Ausgrabungen in den lezten Monaten weithin in der zivilisierten Welt gehört wurde, dürfen wir vielleicht hoffen, daß dadurch bei denkenden Männern und Frauen der Sinn für das Werden der Dinge um einen Grad freier und weiter geworden ist.

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Die Ueberwindung der mechanißtischen Lehre vom Leben in der heutigen Naturwissenschaft.

Von

lic. theol. R. Otto in Göttingen.

In einem früheren Aufsaße über „die mechanistische Lebenstheorie und die Theologie" 1) war versucht worden, die Theorieen darzustellen, mit denen heutige Biologie und Physiologie versucht, das Geheimnis des Lebens aufzulösen und auch auf diesem Gebiete die „rein kausale“ Betrachtung und zwar im Sinne chemisch-physischer und leztlich mechanischer Kausalität, mathematisch-quantitativem Ermessen sich fügend, einzuführen. Die sechs Linien, auf denen dabei ihr Unternehmen vorangeht und ihre Beweise sich bewegen, waren gezogen worden, und nachdem durch sie ihr Bild im ganzen umrissen war, war erwogen, ob Theologie, wenn etwa die mechanistische Betrachtung gelänge, zu ihr ein Verhältnis gewinnen könne. Die Lösung der Sache durch den Hinweis, daß Teleologie kausales Erklären nicht ausschließe sondern fordere, in dem Sinne, wie Lohe dies schon seinerzeit nachgewiesen hatte, hatte sich als zur Hälfte ausreichend erwiesen, zur Hälfte nicht. Gewichtige allgemeine Einwände gegen das Recht der mechanistischen Betrachtung hatten sich von selber eingestellt. Und ein Ueberblick über die jetzt sich wieder erneuende und immer mehrende Kritik der Fachmänner gegen die Einseitigkeiten der lange herrschenden

1) Jahrg. 13, Heft 3, S. 179-212.

Schullehre war in Aussicht genommen worden. Das letztere soll im folgenden versucht werden. Es wird sich handeln um eine Darstellung der neuen Bewegung im Gebiete der Lebenslehre, die man ziemlich unzulänglich die „neovitalistische" zu nennen pflegt. Sie ist der Theologie in mehr als einer Beziehung interessant, da sie in der Tat eine Ueberwindung des Mechanismus bedeutet und der religiösen Weltbetrachtung erlaubt, sich auf einer breiteren Grundlage zu bewegen als auf der etwas schmalen Lohe'schen. Wie sehr und wie ferne, das wird sich im Verlaufe der Uebersicht deutlicher herausstellen.

Es steht mit der Lebenslehre zurzeit ganz überraschend ähnlich wie mit ihrem Komplement, der Lehre von der allgemeinen Entwicklung der Organismenwelt. Die großen Schullehren, hier der Darwinismus und dort die mechanische Deutung des Lebendigen, kommen ins Wanken, nicht durch die Kritik der Außenstehenden, sondern durch die Männer des Faches und der Schule selber. Und das Interesse, das die Theologie daran hat, ist beiderseitig gleich: das transzendente Wesen der Dinge und die Tiefe der Erscheinung, die jene Theorieen leugneten oder zudeckten, reißt sich wieder auf. Das Inkommensurable und das Geheimnis der Welt, dessen die Religion zum Atmen vielleicht noch nötiger bedarf als des Rechtes zu teleologischer Betrachtung, bricht deutlich wieder in die allzusehr rationalisierte und mathematisierte Welt herein und stellt sich wieder her gegen die zähen, andauernden Versuche, es zu vergewaltigen. Zum Vorteile von beiden: der Naturwissenschaft wie der Religion. Der Religion: denn sie verträgt sich schwer mit der Allgemeinherrschaft mathematischer Betrachtung. Der Naturwissenschaft: denn indem sie die Einförmigkeit quantitativer Betrachtung aufgibt, gibt sie nicht ihre Grundlage" und ihr „Daseinsrecht“ auf, sondern eine petitio principii und ein Vorurteil, das sie nötigte, die Natur zu entleeren statt sie zu erklären und der Natur Wege vorzuschreiben statt die Wege der Natur zu finden.

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Der Rückschlag gegen die einseitig-mechanistischen Theorieen ist sehr mannigfaltig verschieden: er geht bei den einzelnen Forschern aus teils von der Theorie als Ganzem, teils von einzelnen

Teilen und auf einzelnen Linien derselben. Er hebt an mit der bloßen Kritik und Einwendungen, die sich begnügen zu versichern, daß man vorläufig" doch noch weit entfernt sei von einer chemischphysischen Auflösung des Lebensrätsels, und steigert sich durch alle Grade bis zur völligen emphatischen Verwerfung der Lehre als einer die Forschung hemmenden Zeit- Idiosynkrasie und kritiklosen Schulvoreingenommenheit. Er bleibt bei bloßem Proteste und 'der Erweisung der Unzulänglichkeit der mechanistischen Erklärung stehen, ohne für das Gebiet des Vitalen eine eigene selbständige theoretische Formulierung zu versuchen, oder er unternimmt eine Lebenslehre als selbständige Grundwissenschaft mit Autonomie der Lebensvorgänge, oder er erweitert sich entschlossen zu metaphysischer Betrachtung und Spekulation. Spekulation. In alledem gibt er einen so eigenen Abschnitt heutiger Ideen- und Problem-Bewegung, daß er anziehend wäre auch ohne das Interesse, welches ihm von seiten religiöser und allgemein idealistischer Weltauffassung her in so besonderem Maße zukommt. Die angegebenen Gegensätze und Unterschiede geben zugleich den geeigneten Leitfaden ab, nach dem sich unser Stoff gruppiert. Am maßgebendsten ist dabei der Gesichtspunkt, wieweit der Widerspruch gegen den Mechanismus rein Protest und Kritik bleibt, und wieweit er sich zu eigenen positiven Lehren erhebt und zusammenfaßt.

Noch Liebig und Joh. Müller waren troh der Harnsäure und der sich immer mehrenden organischen Verbindungen, die es gelang rein auf chemischem Wege herzustellen, Vitalisten geblieben. Die folgenden Generationen erst, etwa von der Mitte des vorigen Jahrhunderts, waren bei uns, besonders unter der Führung von Dubois-Reymond, zum entschiedenen Mechanismus übergegangen und hatten die Anschauungen der Schule immer siegreicher bestimmt. Doch blieb auch, wenn schon gehalten und vorsichtig, der Widerspruch von Anfang an nicht aus. Der typische Vorsichtige" ist hier, ganz ebenso wie in Sachen des ungefähr gleichzeitig aufkommenden Darwinismus 1), Rudolf Virchow. Seine Bedenken

"

1) Vgl. über seine ganz gleichlaufende Stellung zum Darwinismus: Theol. Rundschau, Jhrg. VI, S. 186 ff., in Otto „Darwinismus von heute und Theologie".

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