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da erscheint natürlich der himmlische Hohepriester des neuen Bundes und sein die Gemeine ein für allemal ,,vollendendes" Opfer als das höhere Gegenbild zu den „weltlichen" aaronitischen Priestern und ihrem jährlich die kultische Reinheit des Volkes wiederherstellenden äußerlichen Versöhnungsopfer. Aber wo der Brief in eigentlich dogmatischer Weise Jesu Verdienst um die Seinen schildert, da denkt doch auch er mehr an die Befreiung der Gemeine Jesu von dem Tode und der Todesfurcht.

Jesus selbst hat es als seine Aufgabe bezeichnet, die Werke des Bösen aufzulösen. Und er denkt dabei keineswegs in erster Linie an die Erwerbung der Sündenvergebung für die Seinen, sondern an die Ueberwindung der in Tod und Krankheit sich offenbarenden Macht des Bösen in der Welt. Wohl sind ihm in einzelnen Fällen „Heilung“ und „Sündenvergebung" gleichbedeutend. Aber doch nur in einzelnen Fällen. Und seine frohe Botschaft an die Armen und Kranken redet doch niemals von einer erst durch sein Werk, insbesondere durch sein Leiden ermöglichten Vergebung der Sünden, sondern sie ist die Verheißung von dem Nahen der Herrschaft Gottes über die Menschen, und die Aufforderung, sich dazu bereit zu halten. Natürlich liegt in dieser Botschaft ebensogut die Anerbietung der vergebenden Liebe Gottes für die Sünder, die sich zu diesem Reiche bereiten, wie die Forderung, durch Abwendung von der weltlichen Sinnesart die Fähigkeit für das himmlische Leben zu gewinnen. Aber niemand wird aus den drei ersten Evangelien den Eindruck empfangen, daß Jesus für seine ersten Jünger vor allem der nur Vergebung ihrer Sünden schaffende Heiland gewesen ist und sein wollte. Sie erhofften in ihm glaubend das Kommen des Gottesreiches. Und er erwartet und fordert von ihnen, daß sie in den neuen Sinn der Liebe und Kindesdemut, der Reinheit und der Herrschaft über sich selbst eingehen sollen, den er selbst offenbart und durch den sich die Kinder des Gottesreiches von den Gliedern weltlicher Reiche unterscheiden sollen. Wer diesen Sinn mitbringt, für den ist das Himmelreich auch Vergebung der Sünden; denn er versteht Gottes wahre Gesinnung gegen seine Kinder.

Und vollends im Gedankenkreise der johanneischen

Schriften tritt der Gesichtspunkt, daß Jesus den Seinen durch seinen Tod die Vergebung der Sünden erwirbt (so gewiß er hie und da auch als längst feststehender Glaube der christlichen Gemeine vorausgesetzt wird), doch im großen und ganzen völlig zurück. Gott wird in Christus geschaut: wer ihn sieht, der sieht den Vater. Das Licht, für welches die Welt nicht empfänglich ist, tritt in ihm als eine geschichtlich menschliche, auch den Kindern der Erde erfaßbare Wirklichkeit in die Menschheit ein, und überwindet die Welt. Die in Jesus erschlossene Erkenntnis des wahrhaftigen Gottes ist das ewige Leben. Mit dem offenbar werdenden Gott erschließt sich auch der wahre Zweck der Menschheit und ihre Bestimmung. Nur indem man selbst in das Reich des Lichts und der Liebe eingeht, versteht man Gott als das Licht und die Liebe. Jesus verklärt den Vater in seinem Liebestode; der Vater verklärt ihn durch seine Erhebung in das Leben der ewigen Welt; und der Tröster, der Geist beider, verklärt das, was Jesus als geschichtliche Einzelperson gewesen ist, zu dem die Welt erneuernden und richtenden Prinzip.

So wird man nach der biblischen Gesamtanschauung auf die Frage, was uns Jesus sei, nicht einfach antworten dürfen: „Er ist der, welcher uns Sündenvergebung erworben hat." Und je freier und christlicher wir das menschliche Leben verstehen lernen, desto weniger werden wir geneigt sein, den Mittelpunkt der Religion in der Gewißheit der Sündenvergebung zu sehen. Sie bildet gewiß immer die Voraussetzung, ohne die christliches Leben nicht denkbar ist. Aber sein eigentliches Wesen müssen wir in einem positiven, schöpferischen Prinzip suchen.

6. So ist Jesus uns Christ us. Er ist uns Lehrer und Vorbild. Er ist uns der, in welchem wir Gott anbeten. Er ist uns der, in welchem wir der sündenvergebenden Gnade Gottes uns gewiß fühlen. Aber keine einzelne dieser Aussagen als solche gibt die volle und richtige Antwort auf die Frage, die uns beschäftigt. Ja, wir werden nach den vorhergehenden Erwägungen nicht leugnen können, daß jede einzelne dieser Antworten auch so gegeben werden kann, daß dabei die Persönlichkeit Jesu selbst ohne eine entscheidende Bedeutung für unser Leben bleibt, weil sich das,

was wir gewohnheitsmäßig an ihn anschließen, auch wohl ohne ihn denken ließe, oder doch so, daß es nur historisch und vorübergehend mit ihm verbunden erschiene.

7. Was ist uns Jesus? In welcher Weise ist das religiöse Leben eines Christen der Gegenwart an diese geschichtliche Persönlichkeit gebunden, auch wenn er sich nicht mehr in unbefangener Abhängigkeit von der ungeprüften Neberlieferung seinen Zusammenhang mit Jesus erklärt?

Zweifellos geschieht das auf gesunde Weise nicht so, daß er auf Grund der hergebrachten kirchlichen Auslegung einzelner Bibelstellen an die präeristente und in Königsherrlichkeit weiter lebende Christuspersönlichkeit der Kirchenlehre dächte und sie zum Gegenstande seiner Religion neben oder in Gott machte. Gewiß haben sich Tausende gewöhnt, so zu verfahren. Aber eben nur gewöhnt. Eine wirkliche persönliche Ueberzeugung von der „Gottheit" Christi, von seiner Präeristenz oder Posteristenz, also eine Ansicht über das ,,was dünket Euch von Christo?" fann immer erst das Ergebnis der inneren Gebundenheit des Glaubens an seine wirkende Persönlichkeit sein, also das zum Ausdruck bringen, was der Glaube in ihr schon gefunden hat und besit. Sobald sie zu einer an sich feststehenden Voraussetzung dieser inneren Gebundenheit gemacht werden soll, wird sie zu einer wertlosen Nachbildung fremder Ueberzeugung im Verstande. Und bei dem gegenwärtigen Stand der biblischen Kritik und Auslegung, bei dem jezt üblichen Geschichtsverfahren und bei der jetzt zugänglichen Kenntnis dessen, was auch in anderen Religionen von verwandten Vorstellungen vorhanden ist, hat ein solches Nachbilden überhaupt feine Aussicht, gebildeten und selbständig denkenden Menschen der Gegenwart einzuleuchten, ehe ihnen Jesus auf anderem Wege zum Mittelpunkt ihres religiösen Lebens geworden ist.

Ebensowenig geschieht es so, daß eine genügende Ueberzeugung von Jesus in gleicher Weise zustande käme, wie das bei anderen Gegenständen der Geschichtsforschung der Fall ist, also als das Ergebnis der Wissenschaft vom Leben Jeju. Gewiß ist es der geschichtliche Jesus, also eine bestimmte Einzelpersönlichkeit der Geschichte, an die wir uns als Christen

religiös gebunden fühlen, nicht ein „idealer Christus“, den unsere eigene religiös-ethische Phantasie sich selber schüfe, oder den die Phantasie anderer in früheren Zeiten geschaffen hätte. Der Glaube an Christus würde notwendig aufhören, sobald wir die Möglichkeit gelten ließen, daß die Persönlichkeit Jesu, oder doch das, was uns an ihr bedeutungsvoll für unsere Frömmigkeit ist, als ungeschichtlich zu erweisen sei. Aber ebenso gewiß ist ein anderes. Wenn wir auf dem Wege der wissenschaftlichen geschichtlichen Untersuchung an die Urkunden dieses Lebens herantreten und eine Glaubensstellung zu Jesus erst einnehmen wollten, nachdem ein der geltenden Ansicht über ihn entsprechendes geschichtliches Ergebnis wissenschaftlich sicher gestellt wäre, dann würde einerseits diese Glaubensstellung immer nur eine provisorische sein, also im Grunde für unser religiöses Leben gar nicht existieren; sie müßte ja für jede neue Untersuchung offen stehen und jedes neue Ergebnis könnte sie gegebenen Falles verändern oder aufheben. Andererseits wäre zu fürchten, daß bei dem Charakter der uns zu Gebote stehenden Quellen, die ja jämtlich die von uns gesuchte Glaubensüberzeugung schon voraussehen und völlig ohne Rücksicht auf die Gesetze der wissenschaftlichen Geschichtsbehandlung entstanden sind, das notwendige Ergebnis überhaupt niemals mit genügender Einhelligkeit zu erreichen sein würde, oder wenigstens nur in so allgemeinen Zügen, daß es zu einer wirklichen Glaubensabhängigkeit von Jesus durchaus nicht berechtigen könnte. Ein wundertuender, von erhabenen sittlichen Ueberzeugungen getragener Lehrer in Israel, dessen Jünger ihn nach seinem Märtyrertode lebendig wieder gesehen zu haben. überzeugt waren, der aber an Sprache, Vorstellungsweise und Lebensanschauung seiner Zeit und seines Volkes vielfach gebunden erscheint", das wäre wohl alles, was mit einer solchen Methode zu erreichen wäre, und was könnte das für unser inneres Leben und für unser Verhältnis zu Gott bedeuten?

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Eine geschichtliche Persönlichkeit kann der Gegenstand unseres Glaubens, also bedeutungsvoll für unser Selbstbewußtsein Gott gegenüber, niemals in der Weise sein, daß sie uns als eine bloß vergangene, also als einfacher Gegenstand der Ge

schichte, gegenüberstände, sondern nur so, daß das, was einst geschichtlich war, von uns noch fortdauernd erfahren werden kann, weil es auf unser gegenwärtiges religiöses Leben, noch unmittelbar bestimmend einwirkt. Also nur dann, wenn ihr Einfluß, den wir erfahrungsmäßig in unserem Innern spüren, eine lebendige religiöse Ueberzeugung in uns begründet und berechtigt. Also kann Jesus nur so unser „Herr" sein, daß die von seiner Persönlichkeit ausgehenden Wirkungen unser inneres Leben gegenwärtig ebenso zweifellos berühren, wie sie einst das seiner Zeitgenossen bestimmt haben.

8. Aber auch mit dieser Näherbestimmung ist das Verhältnis, um das es sich handelt, noch nicht zu klarem Ausdruck gekommen. Eine Persönlichkeit kann auch durch das, was sie einst geschaffen hat (einen Staat, ein Gesez, eine Kirche), oder durch das, was sie zuerst erkannt hat (eine Lehre, einen Glauben), lebendig das Leben der Jehtzeit bestimmen, und doch selbst für die Menschen der Gegenwart im Grunde gleichgültig und ohne Einfluß auf ihr inneres Bewußtsein bleiben. Es kann völlig genug sein, daß sie sich von den aus dieser Persönlichkeit stammenden Wirkungen wirklich beeinflußt wissen. Für den Bürger eines lebendigen Staatswesens kommt die persönliche Beziehung zu den Helden und Königen, die es einst gegründet haben, durchaus nicht mehr in Frage, obwohl er selbst und alles, was ihm bedeutungsvoll und erfreulich ist, ohne sie nicht wäre, was es ist. Sein Verhältnis zu solchen Heroen, wenn er überhaupt von ihnen weiß, ist gewiß das der Bewunderung und der dankbaren Pietät. Aber ein guter Bürger kann er auch sein, ohne von ihnen zu wissen und ihrer zu gedenken. Wer von der Frömmigkeit einer Kirche getragen wird, der könnte an sich fromm in mustergültiger Weise sein, auch wenn er nichts von den Männern wüßte, die einst die Offenbarung gebracht haben, durch die diese Kirche gestiftet ist. So ist es in allem Heidentum, so in gewissem Sinne auch in solchen Religionen, wie die indischen, die persische und der Islam, ja auch im eigentlichen Judentum. Man könnte sich sogar eine Form des christlichen Katholizismus vorstellen, für die „Jesus" durch die lebendige Kirche völlig aufgesogen und religiös

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