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Stelle eine Kritik, die sich in der Form der Vorliebe für die Harmonie der Ausbildung ausspricht. „Ich habe nun einmal gerade", sagt Wilhelm, zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung." 1) Daß nicht jedem eine solche Bildung zu teil werde, ist ohne Zweifel ein Nachteil; dies zeigt der Schlußsatz, der den individualistischen Charakter also wesentlich mildert. Die drei Oberen der pädagogischen Provinz nennen als Grundlage ihrer Erziehung die Ehrfurcht: vor dem, was über uns, was unter uns und was neben uns ist. Die Religion, die sich auf die Ehrfurcht vor dem, was neben uns ist, gründet, ist die philosophische: „denn der Philosoph, der sich in die Mitte stellt, muß alles Höhere zu sich heraufziehen, und nur in diesem Mittelzustande verdient er den Namen des Weisen. Indem er nun das Verhältnis zu seinesgleichen und also zu allen übrigen irdischen Umgebungen, notwendigen und zufälligen, durchschaut, lebt er im kosmischen Sinne allein in der Wahrheit“. 2) Diesem Erziehungsideal entspricht im Credo der dritte Artikel, der eine begeisterte Gemeinschaft der Heiligen lehrt. 3) Darin ist die summa der Goethischen Pädagogik gezogen.

Während das zweite Buch der Wanderjahre noch am Schluß die Frage aufwirft, ob harmonische Bildung oder Hinlenkung der Fähigkeiten auf einen besonderen Zweck zu verfolgen sei, steht das dritte Buch ganz unter dem Motto: Ubi homines sunt, modi sunt d. h. wo Menschen in Gesellschaft zusammentreten, sogleich die Art und Weise, wie sie zusammen sein und bleiben mögen, sich ausbilde. 4) Der einzelne in seinem isolierten Dasein ist gar nicht zu denken. Die Gesellschaft ist das Endziel aller Menschenerziehung. Was der Mensch auch ergreife und handhabe, der einzelne ist sich nicht hinreichend, Gesellschaft bleibt eines wackern Mannes höchstes Bedürfnis. Alle brauchbaren Menschen sollen in bezug untereinander stehen. ."5)

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Wenden wir uns nun den positiven Ansichten über die Pflichten des Staates zu, dann haben wir nicht das Recht, einzelne Disticha

1) A. a. O.

2) W. Meisters Wanderjahre, 2. Buch, 1. Kap.
4) Wanderjahre, 3. Buch, 1. Kap.

5) Wanderjahre, 3. Buch, 9. Kap.

3) A. a. O. Ende.

gegen GOETHE auszuspielen. 1) Die allgemeinen Richtlinien haben wir in seinen großen Werken gefunden. Im wesentlichen stimmt es, wenn wir sagen, daß sich GOETHE in Rücksicht auf die Pflichten der Regierung in seinen Anschauungen mit W. v. HUMBOLDT berührt, indem er meinte, die Regierungen sollten mehr bestrebt sein, die Masse der Übel zu vermindern als sich anzumaßen, die Masse des Glücks herbeizuführen. Der Staat darf auch, wie er sich ausspricht, in die Organisation der Berufsgenossenschaften kontrollierend eingreifen, aber er soll Wissenschaft und Kunst nicht bevormunden. 2) Daß GOETHE dem politischen Leben und den politischen Ereignissen nicht gleichgültig gegenüberstand, haben wir schon erwähnt. Von der Französischen Revolution sagte er nach der Kanonade von Valmy (20. Sept. 1792): „Von hier und heute geht eine neue Epoche in der Weltgeschichte an". Im übrigen fühlte er sich infolge der Schreckensherrschaft von der Revolution abgestoßen, wenn er auch die welthistorische Tragweite derselben nicht verkannte. Er war der Meinung, daß Reformen von der Regierung auszugehen hätten und nicht durch Revolution zustande kommen dürften. An den glücklichen Erfolgen der Befreiungskriege hat GOETHE innerlichen Anteil genommen, wie sein Festspiel, Des Epimenides Erwachen" beweist. 3)

1) Wie dies z. B. Dr. S. M. MELAMED in seinem soeben erschienenen Werk,,Der Staat im Wandel der Jahrtausende" tut. (Stuttgart, Enke 1910.) 2) Vgl. SIEBECK, a. a. 0. 3) Vgl. L. GEIGER, a. a. O. S. 56 ff.

IV.

Wilhelm von Humboldt1).

Die Idee der Humanität beherrscht und beseelt das Zeitalter, von dem hier die Rede ist. Alle großen Geister jener Tage stellten ihre Kraft in den Dienst der Erkenntnis und der Verbreitung der Menschlichkeit. WILHELM VON HUMBOLDT war hier der vornehmsten einer.

Die humanitas ist naturrechtlich beglaubigter Herkunft. Andere Beziehung zum Naturrecht hat W. v. HUMBOLDT nicht. Es läßt uns nicht wunder nehmen. Das Naturrecht in der Bedeutung, die ihm allgemein beigelegt wurde, war überwunden durch KANT, dessen Verdienste kaum ein Zeitgenosse in so beredten Worten anerkannt hat wie gerade HUMBOLDT. Es lag also an sich schon weniger Grund vor, sich an den Namen des Naturrechts zu halten, der schon einen Beigeschmack des Veralteten angenommen hatte. Und vollends HUMBOLDT, der mit so feinem und eindringendem Verständnis die Probleme der Geschichtsphilosophie zerlegt und beleuchtet hat, mußte sich von einem Recht abgestoßen fühlen, von dem das Gerücht angab und die Tat z. T. bewies, daß es absolute und ewige Formen postulieren wollte. Das Dogmatische und mit ihm den Namen gab HUMBOLDT preis, das Allgemeinmenschliche, den sittlichen Charakter des Naturrechts, erhielt er sich in der Verehrung für die Idee der Humanität.

Es gibt gleichsam zwei Wege, auf welchen man der Verwirklichung dieser Idee nachgehen kann, indem man entweder wie SCHILLER unmittelbar auf die Kultur der Menschheit zu wirken strebt durch Verbreitung großer Ideen und Gefühle, und indem man sich unmittelbar an die Herzen der anderen wendet und ihre Sehnsucht entfacht zur Anteilnahme an dem gemeinsamen Streben der

1) Vgl. R. Hayм, W. v. Humboldt, Lebensbild und Charakteristik.

Zeit. In diesem Dienste der Humanität wächst dann das eigne Individuum, indem es die großen Werte der Zeit in sich aufnimmt und veredelt. Es gibt andere Naturen, die den scheinbar entgegengesetzten Weg gehen, wie z. B. GOETHE und W. v. HUMBOLDT. Sie durchdringen und gestalten die Wirklichkeit von innen nach außen, sie ergreifen alle Kulturwerte scheinbar nur zur Veredlung der eigenen Persönlichkeit, sie setzen alle Erlebnisse trauriger und freudiger Natur nur in Beziehung zu der eigenen zu erstrebenden Vollkommenheit und machen sie dieser dienstbar. Diese beiden Wege sind nur scheinbar entgegengesetzt; sie müssen sich begegnen. Indem GOETHE sich selbst durch die Dichtung des Werther von den Nöten des Augenblicks befreite, beschenkte er die Welt mit einem unvergänglichen Kunstwerk und wirkte so nicht minder stark auf die Herzen der andern. 1) Wer so gewohnt ist, in der Weltbetrachtung und seinem Streben nach Vervollkommnung vom eignen Individuum auszugehen, wird leicht dazu neigen, die Originalität und die Eigentümlichkeit auch bei anderen Individuen hoch zu schätzen. Man darf hier an CARLYLE erinnern, dessen Heldenverehrung aus solchen Wurzeln seiner geistigen Existenz hervorgegangen ist. Schon längst aber hat man erkannt, wie in dieser Art des durch die Humanität geläuterten Individualismus ein besonderes Merkmal der Geistesart W. v. HUMBOLDTS liegt. 2) Dies aber muß man im Auge behalten, wenn man HUMBOLDT, dem Politiker, gerecht werden will.

Die Jugendschrift W. v. HUMBOLDTS „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" ist in ihrer Art auch eine Erklärung der Menschenrechte und in ihrer Absicht derjenigen der französischen Nationalversammlung verwandt. Es ist interessant, die Gedankengänge, welche die französischen Politiker bewegten (SIEYÈS und MIRABEAU), mit denen HUMBOLDTS zu vergleichen. Die Gemeinsamkeit ihres Strebens zur Humanität wie die Verschiedenheit der Wege, die sie für gangbar hielten, ist instruktiv. HUMBOLDT kann am nächsten zu MIRABEAU gestellt werden, auf den er sich auch gelegentlich beruft. Lieber einmal einen Schritt zurück, damit ja bei der Reform kein Unrecht geschehen kann. Es mag wahr sein, daß die Nationalversammlung, 1) W. Kinkel, Vom Sein und von der Seele. Gießen 1906, S. 21. 2) HAYM a. a. O. I, 310.

in dem Versuch einer Konstitution den Blick allzuweit von der bestehenden Wirklichkeit ablenkte; und soweit wird man das Urteil HUMBOLDTS über die Französische Revolution berechtigt finden dürfen.1) Er beruft sich darauf, daß eine Staatsverfassung, welche allein nach den Grundsätzen der reinen Vernunft entworfen ist, niemals in der Wirklichkeit gedeihen kann, weil keine Nation an keinen endlichen Zeitpunkt der Geschichte völlig reif zu einer derartigen Verfassung wäre. Aber bei diesem Urteil ist doch manches übersehen, was sich nur aus dem schier ängstlichen Wirklichkeitssinn und Individualismus HUMBOLDTS verstehen läßt. Man kann ihm hier einwenden, daß auch kein Staatsmann und keine Versammlung von Staatsmännern oder Deputierten an keinem endlichen Zeitpunkt der Geschichte fähig sind, die absolute Vernunftverfassung zu entwerfen, sondern diese wird durch die Bemühungen der Jahrhunderte immer reiner und reiner erst erkannt und enthüllt. Jede Vernunftverfassung, wie sie von PLATON bis KANT, wie sie also auch von den Männern der Nationalversammlung entworfen worden ist, bleibt immer nur ein Versuch, jene letzte absolute Staatsverfassung zu erreichen, ein Versuch, der aber notwendig hinter diesem Ziele zurückbleiben muß. Daraus folgt keineswegs, daß nun der Entwurf einer solchen Vernunftverfassung nnd das Bestreben, sie in die bestehende Wirklichkeit einzuführen, an sich verfehlt wäre. Dies konnte ja auch unmöglich HUMBOLDTS Meinung sein, der in der Schrift über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates selbst einen derartigen Entwurf versucht hatte. Auch konnte er nicht verkennen, welch gewaltige Wirkungen von der Französischen Revolution und insbesondere von der Erklärung der Menschenrechte und dem Verfassungswerk der Nationalversammlung ausgehen mußte. So sagt er denn in jenem selben Brief, in welchem er sich über die Unmöglichkeit der Verwirklichung einer Vernunftverfassung ausspricht: „,sie (die Revolution) wird die neuen Ideen aufs neue aufklären, aufs neue jede tätige Tugend anfachen und so ihren Segen weit über Frankreichs Grenze verbreiten. Sie wird dadurch den Gang aller menschlichen Begebenheiten bewähren, in denen das Gute nie an einer Stelle wirkt, wo es geschieht, sondern in weiten Entfernungen der Räume oder der Zeiten, und in denen

1) HUMBOLDTS Werke ed. A. v. HUMBOLDT. Berlin 1841 (Reimer) I, 302 f.

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