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vornehm reservierten Höhe herab, er nahm vertrautere Formen an, wurde wesensgleicher, d. h. menschlicher. Er wurde zur Genossenschaft.

Mit welcher Begeisterung diese Gedanken der Aufklärung in allen Ländern aufgenommen wurden, ist bekannt. Ein erfrischender Odem neuen Lebens durchglühte den rechtlich-sittlichen Organismus der damaligen Kultur. Unter den verschiedenen sich bekämpfenden pädagogischen Tendenzen, die teils auf christliche, teils auf materialistisch realistische, teils auf individuell ästhetische Erziehung gingen, hat das auf naturrechtlicher Basis ruhende Bildungsideal die Vorherrschaft gewonnen. Es hat den Gedanken einer Erziehung in Stufen verworfen und allgemeine Volksbildung oder, wie der ehrwürdige Ausdruck lautet, allgemeine Menschenbildung verlangt. Dieses pädagogische Programm knüpft sich an den Namen PESTALOZZIS. Ihm gebührt das Verdienst, nebst seinem großen Lehrer ROUSSEAU, dem seit der Renaissance lebendigen Gedanken, daß der einzelne Bewußtsein habe, welches nicht unterdrückt werden und nicht verkümmern dürfe, Anerkennung im sittlichen Allgemeinbewußtsein der Völker verschafft zu haben. Der Gedanke der allgemeinen Volksbildung ist in die Verfassungen der modernen Staaten aufgenommen. Er ist wenigstens ein bedeutender Anfang auf dem Wege zur PESTALLOZZI Schen Menschenbildung, die allen Menschen in gleicher Weise, dem König auf dem Throne wie dem Bettler, der nichts hat, worauf er sein Haupt legen kann, zuteil werden soll.

Neue Bahnen hat die naturrechtliche Strömung der Aufklärung vor allem dem Recht eröffnet. In geringem Maße war dies naturgemäß im Privatrecht der Fall. Das römische Recht zeigt so starke individualistische Prägung, hat eine so weitgehende Vertragsfreiheit, daß der Auswirkung des Einzelwillens keine Schranken entgegenstanden. Anders dagegen im Straf- und im Staatsrecht. Hier drang der neue Geist der Humanität besonders reformierend ein. Das Strafrecht wurde von Grund aus umgestaltet. Die Folter, die Inquisition und die Hexenprozesse wurden aus der Welt geschafft. Das Verfahren des Strafprozesses wurde mündlich und öffentlich. Das Anklageprinzip wurde eingeführt. Um Übergriffe des Gerichts abzuwehren, vor allem um die Kluft zwischen dem Volksempfinden und dem Juristenurteil zu überbrücken, wurde

die Laienbeteiligung an der Rechtsprechung in Schöffen- und Geschworenengerichten durchgeführt. Zuerst in dieser Zeit traten edle Juristen, von naturrechtlichem Geiste getragen, gegen die Todesstrafe auf: FILANGIERI und vor allen anderen BECCARIA.

Vielleicht noch grundstürzendere Änderungen brachte das Naturrecht im Staatsrecht hervor, nicht gerade unmittelbar durch die Autorität des Gedankens, sondern mit Hilfe pädagogischen Zwanges, wie der Französischen Revolution oder der Niederlage bei Jena. Die Überzeugung von Menschenrechten war allgemein verbreitet. Sogar die Kodifikationen, die damals sehr häufig waren, tragen die Signatur des Naturrechtes. Man empfand es vor allem widernatürlich, daß der einzelne Bürger in gar keinem Verhältnis zum Staate stand, daß er nur gehorchte, weil er Strafe fürchtete. Die Gewalt des Staates darf keine fremde, sie muß die eigne, durch das eigne freie Bewußtsein bestimmte Tätigkeit sein. Wie im alten Athen muß in jedem Bürger die Idee des Staates lebendig sein und er alle Gesetze des Staates, als von seiner eigenen sittlichen Vernunft gebilligt, anerkennen. Die Leibeigenschaft, die in Deutschland als Gutsuntertänigkeit bestand, wurde aufgehoben und die Vorrechte des Adels vermindert. Ganz diesem Geiste der Humanität entsprach es, daß man die allgemeine Religionsfreiheit durchführte. Naturgemäß entstehen und entwickeln sich jetzt die Verfassungen, in denen die Rechte des souveränen Volkes schriftlich fixiert wurden. Es reicht nicht, die Bauern nur aus der Leibeigenschaft zu befreien. Damit war ihren Menschenrechten nicht genug getan. Das Naturrecht hat damit auch den Gedanken des allgemeinen Wahlrechtes zutage gebracht, einen der Grundpfeiler des Rechtsstaates überhaupt. Wir haben an dieser Stelle auch der Revolution zu gedenken, die den Gedanken der Aufklärung eine so rasche und gewaltsame Durchführung im Gesellschaftsleben verschafft hat. Wir haben dabei weder die guten noch die schlimmen Seiten im Auge, sondern halten uns an den allgemeinen Charakter dieser kulturgeschichtlich wichtigen Krise. Da können wir uns denn das Wort CARLYLES zu eigen machen, daß die Französische Revolution ein Akt des Protestantismus gewesen sei. Wir verstehen hier unter Protestantismus jenes Vertrauen auf die Zukunft, jenen Haß gegen den Dogmatismus und jenes unbezwingbare Bestreben zur Wahrheit, welches das eigentliche Wesen alles Protestan

tismus ausmachen sollte. Die Französische Revolution war veranlaßt durch die Vereinigung all der Elemente, die der Haß gegen die überkommenen unsittlichen Zustände vereinigte, der Haß gegen das ancien régime, gegen die herrschenden faulen Ansichten über Staat, Religion, Kirche, Gesetzgebung usw. Schon deshalb wird man den Staatsmännern der Französischen Revolution ein tiefes Gefühl für das allgemein Menschliche, für die Idee der Humanität nicht absprechen dürfen.

Die Leitgedanken der Französischen Revolution hat ROUSSEAU in seinem contrat social geschmiedet, von dem JACOB BURCKHARDT 1) einmal gesagt hat, er sei vielleicht ein wichtigeres Ereignis als der Siebenjährige Krieg. Der Gedanke des Vertrages, aus welchem ROUSSEAU die Verfassung und die Gesetze jeder Gesellschaft ableitete, bildet die Grenze zwischen der mündigen und der unmündigen Menschheit. Mit seiner Hilfe wurden die Menschenrechte entdeckt. Wie verfehlt und vielleicht auch kindlich in der Form die Proklamation der Menschenrechte gewesen sein mag, so wahr bleibt es doch, daß sie weltbewegenden Ideen Ausdruck verliehen haben und Gedanken und Mächte enthüllen, welche das politische Leben unserer Zeit wie hoffentlich aller Zukunft durchdringen. Entsprungen aber war diese Bewegung aus der Erkenntnis der Ungerechtigkeit des feudalen, absoluten Klassenstaates, welcher den tiers état zugunsten des Adels und der Geistlichkeit, einer großen Minderheit des Volkes, völlig entrechtete. Darf es wundernehmen, wenn nun Abbé SIEYÈS in seiner berühmten Brandschrift: Qu'est-ce que le tiers état? über das Ziel hinausschießend für die bisher Unterdrückten und Enterbten alle Rechte oder besser alle Vorrechte verlangte, die bisher den oberen Ständen eigen waren? Der Gedanke der Menschenrechte und des Vertrages bildete die feste sittliche Warnung hiergegen. Die tiefere Tendenz des Werkes ging nicht auf Klassenherrschaft. Ein so konservativ gesonnener Historiker wie W. ONCKEN 2) gibt zu, daß es sich darum handelte, den Rechtsstaat an Stelle dee Klassenstaates zu setzen. Es handelt sich also in Wahrheit um Abschaffung der Stände, und wenn die Schrift, wie ONCKEN es ausdrückt, die

1) Weltgeschichtliche Betrachtungen ed. Oeri. Stuttgart 1905, S. 133. 2) In seinem Buche: „Das Zeitalter der Revolution und der Befreiungskriege". Berlin 1885, S. 115.

Souveränität des dritten Standes proklamierte, so gehört nicht allzuviel historischer Scharfblick dazu, einzusehen, daß sie in Wahrheit vielmehr einen Stand, d. h. Souveränität des ganzen Volkes, proklamieren wollte. Es sind Gedanken ROUSSEAUS in ihrer Anwendung auf das bestehende System, konsequent und rücksichtslos durchgeführt. Was die Ergebnisse der Französischen Revolution betrifft, so möchten wir wiederum das Wort eines ihrer vorurteilslosesten Historiker, MIGNETS, zitieren: „Sie hat an die Stelle der Willkür das Gesetz, an die Stelle des Vorrechts die Gleichheit gesetzt; sie hat die Menschen von dem Unterschied der Klassen befreit, das Land von den Schlagbäumen der Provinzen, den Gewerbefleiß von den Fesseln der Innungen und Zünfte, den Ackerbau von den Feudallasten und dem Druck der Zehnten, den Grundbesitz von dem Zwange der nachgesetzten Erbfolge, und hat alles auf einen Staat, ein Recht, ein Volk zurückgeführt. 1) Es genügt schon, wenn sie sich auf dem Wege dazu befand.

KANTS Zusammenhang mit dem Naturrecht ist ein notwendiger und unverkennbarer. Die positiven Gesetze der Rechtsprechung werden nicht als etwas Selbstverständliches hingenommen, sondern Kant bestimmt ausdrücklich: „Es kann eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter positive Gesetze enthielte; alsdann aber müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugnis, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründete." 2) Wie hätte sich Kant einer Bewegung entziehen können, die, aus platonischem Geiste geboren, seinem Denken und Trachten so innerlichst verwandt war? In den Bestrebungen der Naturrechtslehrer lag etwas vom Geiste der transszendentalen Methode. Ihre Interessen sind auf die Grundlagen der Kultur und vor allem des Rechtes gerichtet. Ich verstehe unter einer transszendentalen Erörterung die Erklärung eines Begriffes, als eines Prinzips, woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann." 3) Man hat dies a priori im Sinne des Angeborenen mißverstanden. Und dieses Mißverständnis taucht auch heute immer wieder auf. Es ist besonders das Verdienst H. COHENS,

1) Mignet, Geschichte der Französischen Revolution (Reclam) S. 3—4. 2) Kant, Akademieausgabe Bd. VI. Rechtslehre, S. 224.

3) Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl., S. 40.

ein tieferes Verständnis des Transszendentalen und des a priori erschlossen zu haben. Kant hat für die Kategorien verlangt, daß sie als Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung" „den objektiven Grund" für diese Möglichkeit abgeben sollen. Er hat ausdrücklich für die Kategorien ein „Präformationssystem" der reinen Vernuft abgewiesen, und damit hat er sich gegen die Meinung gewandt, als seien die Kategorien ,,subjektive, uns mit unserer Existenz zugleich eingepflanzte Anlagen zum Denken", weil ihnen alsdann der Charakter der Notwendigkeit abgehen würde; er nennt sie statt dessen ,,selbstgedachte erste Prinzipien a priori unserer Erkenntnis.“1)

Diese Eigenart der Bedeutung der transszendentalen Methode dürfte gerade den Fortschritt KANTS gegenüber den Bemühungen der WOLF Schen Schule in klares Licht setzen. Es gibt keine unwandelbare menschliche Natur, und nicht die Subjektivität des einzelnen Individuums kann die Grundlagen der Kultur und der Wissenschaft verbürgen, sondern die Wissenschaft selbst erzeugt, erneuert und ergänzt ihre Grundbegriffe im Fortschritte der Kultur. Der Ausdruck Natur war irreführend. Wenn die Naturrechtslehrer das Naturrecht auf die ewige, unveränderliche Natur oder wie andere auch auf ein göttliches Recht zurückführen wollten, so war, ganz abgesehen von dem Schaden der Heteronomie, doch auch hier das Ideal verendlicht, und die Voraussetzungen des Rechts und der Sittlichkeit wurden starr und unbeweglich. So heißt es bei ACHENWALL, den KANL für seine Rechtslehre sehr oft benützt hat: Haec juris naturalis notio, quod consistat in legibus, ex voluntate Dei tamquam superioris nostri proficiscentibus" 2). Dasselbe gilt auch gegen die Rechtslehrer, die, wie z. B. WOLF und der Italiener PILATI3), den Vorschlag machten, „Vernunft"recht zu sagen statt Natur- oder göttliches Recht, indem sie darauf hinwiesen, daß das Recht weder von Gott stamme, noch jedermann klar und einleuchtend sei, wie man solches vom natürlichen Recht verlangen müsse, wobei sie jedoch bei absoluten Vernunftgesetzen stehen blieben.

1) A. a. O. S. 167.

2) Prolegomena Juris Naturalis. Göttingen 1767, S. 56.

3) Vgl. z. B. Carl Antonio Pilati, L'Esistenza della Legge naturale impugnata e sostenuta da C. A. P. Venezia 1764, Cap. „Dubia juris naturalis“.

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