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Stellung der Philosophie zur Wirklichkeit, welche die Mißverständnisse betreffen, und ich kehre hiermit zu dem zurück was ich vorhin bemerkt habe, daß die Philosophie, weil sie das Ergründen des Vernünftigen ist, eben damit das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen ist“.1) Ebenso heißt es gleich darauf: ,,Darauf kommt es dann an, in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen". 2) Das ist eben HEGELS Meinung, daß sich die absolute und vollendete Sittlichkeit in der einzelnen sittlichen Handlung bereits aussprechen muß; und so der sittliche Geist im gegenwärtigen Staat. Hier kommt ein innerer Widerspruch seines Systems zum Vorschein. Denn diesem konservativen Element seines Denkens, welches ängstlich an der Gegenwart klebt, widerstreitet ein anderes, das sich in seiner Methode der dialektischen Begriffsbewegung ausspricht. Er sah selbst, daß auch jedes einzelne System der Philosophie, weil es doch nur ein Versuch ist, das theoretische und sittliche Sein zu erfassen, vergänglich ist.3) Diese Erkenntnis eines notwendigen Fortschrittes der Vernunft hat sich an seinem eigenen System bewährt. Wie sich FEUERBACH in seiner Kritik der Religionen auf HEGEL beruft, so hängen auch MARX und ENGELS mit ihm zusammen.

HEGEL hatte die Vernunft selbst zum Prinzip seiner Philosophie gemacht; und die Vernunft in ihrem Fortschreiten innerhalb der Wissenschaft und der Sittlichkeit wird die unvergänglichen Elemente des HEGELschen Systems von den vergänglichen sondern und bewahren.

1) Werke VIII, 16.

2) VIII, 17.

3) VIII, 19.

Schlusswort.

Der von uns vertretene Standpunkt ist weder naturrechtlich noch positiv; er ist vielmehr beides zugleich. Wir nehmen vom Naturrecht das Ziel, vom positiven Recht den Ausgang und die Disposition. Daß der Gesetzgeber an die gegebenen Verhältnisse anknüpfen, daß er die Begabung und Veranlagung, daß er Seele und Charakter seines Volkes kennen muß, gehört zu seiner psychologischen Ausbildung. Diesen Gedanken nachdrücklich betont zu haben, ist das Verdienst der historischen Rechtsschule gegenüber der Naturrechtsschule. Dieser gebrach es zum Teil an pädagogischer Begabung. Sie verwechselte oder identifizierte Recht und Sittlichkeit, ohne zu bedenken, daß das Problem des Rechts darin aufgeht, die Sittlichkeit im Leben zu realisieren. Die Mittel und Wege, die Aussichten auf raschere oder langsamere Erreichung seiner Ziele störten das Naturrecht in seinem Vorgehen wenig. Statt das positive Recht zum Ausgang zu nehmen und nach einer im voraus entworfenen Idee zu reformieren, Schritt für Schritt, stellte es sich auf den Standpnnkt des Ideals, um alles wirklich geltende Recht zu verwerfen. Die Nachteile, die daraus entwuchsen, waren keineswegs so schlimm, wie man es von rechtshistorischer Seite gemeinhin zu behaupten pflegt. So weltfremd war das Naturrecht nicht, daß es sich in dem luftleeren Raum der absoluten Spekulation bewegte. Andererseits ist es auch dem Menschen immer nur möglich, ein endliches und relatives Ideal zu entwerfen. Sie tun dies ganz selbstverständlich (wenn sie nicht reine Utopien entwerfen), vom Standpunkte ihrer Bildung und ihres sittlichen Empfindens aus. Eine genauere Betrachtung zeigt daher, daß das Naturrecht nicht so wirklichkeitsfeindlich ist, als es scheinen könnte. Ja, man darf sogar den Satz aussprechen, daß die größten Errungenschaften in der Geschichte des Rechts und des Staates

nicht dem historischen, sondern dem Naturrecht zu verdanken sind 1). Man nenne eine, die es nicht sei. Hingegen denke man an die allgemeine Volksschule, das allgemeine Wahlrecht, die Volkssouveränität, die Städteordnung, die Einführung des Parlaments, die Abschaffung der Inquisition und der Hexenprozesse. Bedenkt man überdies, daß überall das historische oder positive Recht auf der Seite der Reaktion stand, dann wird man das oben gefällte Urteil nicht übertrieben finden. Natürlich wurden diese Errungenschaften, nachdem sie einmal in die Erscheinung getreten waren, in das positive Recht aufgenommen. Das wäre überhaupt ein schlechtes Naturrecht, welches nicht zum positiven Recht hinstrebte. Der Irrtum der historischen Schule liegt nur darin, daß sie glaubt, das positive Recht erzeuge das neue positive Recht. Sie hat übersehen, daß es außer dem nationalen geltenden Rechte noch internationales Recht geben kann, welches, vom weiteren, allgemeineren Horizonte aus diktiert, geeignet sei, die Nation zum Staate als dem Prototyp der Menschheit fortzubilden. Das bestehende Recht galt ihr als Ausfluß des Volksgeistes, einer Art Gespenst, dessen qualitas occulta man nicht näher zu bestimmen vermochte. Der Volksgeist ist ein Erzeugnis der Romantik, der das politische Urteil darüber, wie sich der Geist des Volkes äußern könnte, abging. In der Schöpfung des Volksgeistes hatte man ein Mittel gefunden, den Gedanken zurückzuweisen, daß die Vernunft aus sich selbst Recht zu schaffen imstande wäre, oder daß gar in einem Parlament ausgemacht werden könnte, was Recht sei für ein Volk. Das Gemeinbewußtsein sollte nicht von der Gemeinde selbst bestimmt werden, sondern dem Herrscher allein war es vergönnt, in dem Buch der Zeiten zu lesen und jenen Volksgeist zu entziffern. So kam es, daß dieser Geist oft recht geistlos war. Man glaubte vornehmlich in dem Gewohnheitsrecht der primitiven Völker die ureigenste Offenbarung des Volksgeistes in unmittelbarer Wirksamkeit erblicken zu können, ohne zu bedenken, daß es nicht der ,,Volksgeist" ist, der hier vorwärts treibt. Schon im Gewohn

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1) Über die Kraft und den Zauber des naturrechtlichen Gedankens hat O. GIERKE (Naturrecht und deutsches Recht. Frankfurt a. M. 1883, S. 14) folgenden treffenden Ausspruch getan: Uralte Bande hat er gesprengt, befreiende Reformen und grundstürzende Revolutionen hat er gezeugt, tausendjährige Rechtsgebilde hat er wie Spreu vom Boden gefegt, nie zuvor erhörte Neubildungen hat er ins Dasein gerufen.

heitsrecht sind primitive sittliche Vorstellungen wirksam, welche den Fortschritt bewirken. Da überdies das Recht den stetigen Gang einer Wissenschaft einschlagen und sich vor allem wegen seiner Prinzipien und Grundsätze ausweisen muß, können wir die Definition des Rechts auf der Grundlage des Volksgeistes, wie sie z. B. von KOHLER gegeben wird, aus mehrfachen Gründen nicht billigen. KOHLER 1) sagt: „Das Recht ist also eine Offenbarung des in der Menschheit waltenden vernünftigen Geistes und Kulturtriebes; es sorgt dafür, daß in der Menschheit ordnungsgemäße, erträgliche Kulturzustände herrschen und dies immer nach der Art der Organisation der Gesellschaft, nach der Art der Denk- und Fühlweise der Menschheit und namentlich mit Rücksicht auf die größere oder geringere Individualisation und Ablösung des einzelnen von der Gesamtheit". Wir verkennen nicht, daß auch hier, wie in dem Begriff des Volksgeistes überhaupt, eine tiefere sittliche Wahrheit liegt. Nicht auf den Geist des einzelnen, sondern auf den Geist des Volkes im genauen Sinne des Wortes kommt es in der Tat an. Aber dieser Geist ist nicht ein Naturgewächs, wie eine Pflanze, die willenlos wächst, sondern eben ein Produkt der praktischen Vernunft des Volkes. So meint denn überhaupt der Ausdruck Naturrecht kein physisch-natürliches, willenloses Geschehens durch die Natur, sondern ein bewußtes Werden zur Natur. Die Anschauung des Naturrechtes, darin können wir KOHLER 2) beistimmen, von einem ewigen Recht war verfehlt: So, wenn HUGO GROTIUS sagt, das Naturrecht sei derart unveränderlich, daß es auch von Gott selbst nicht verändert werden könne. 3) Aber war hierunter nicht der weitausschauende Gedanke verborgen, daß das Rechtsoder das Sittengesetz auf die Handlungen der Menschen naturgesetzliche Kraft erlangen sollte? Freilich könnte man auch alsdann noch nicht von einem absoluten Recht sprechen; denn auch die Naturgesetze sind nicht absolut, sondern dem Fortschritt der Wissenschaft unterworfen.

Seinem Wesen nach mußte sich das Naturrecht mehr an den Geist als an den Buchstaben des Gesetzes halten, so zwar, daß zu Zeiten das Maß des erlaubten überschritten worden ist. Das positive historische Recht verfiel in das andere Extrem. Nach dem histo1) Enzyklopädie der Rechtswissensch. FR. v. HOLTZENDORFF ed. J. KOHLER 1904, I, 15. 2) A. a. O. S. 3. 3) De jure belli ac pacis. C. I § 10.

rischen Recht bleibt auch das ungerechte Recht solange als Recht bestehen, bis es auf gesetzlichem Wege beseitigt wird. Das richtige liegt hier in der Mitte und zwar deshalb, weil man in einem Fall gegen das Wesen und die Absichten des Rechts handelt, im anderen Falle das gegebene Recht verläßt und vollständig aufgibt, um sich an dessen Statt ungeprüften und kühnen Neuerungen anzuvertrauen. Beim historischen Recht, d. h. dem jetzt geltenden, kann es häufig vorkommen, daß es dem Richter durch Rechtsbestimmungen unmöglich gemacht ist, dem Recht zur Geltung zu verhelfen. Dies gehört zur Tragik des Richterberufes, daß er das Recht nur als Wechselpfennig in Händen hat. Doch liegt darin gleichzeitig eine gewisse Gewähr gegen die Willkür.

Zwischen Rechtsform und Rechtsgeist darf keine Disharmonie entstehen. Es müssen immer Kräfte wirksam sein, die diese Verbindung herstellen, welche immer wieder der Auflösung zustrebt. Diese Kräfte enthält das Naturrecht. J. B. BLUNTSCHLI1) sagt von dieser Verbindung (allerdings in Rücksicht auf die Politik): „Die geschriebene Verfassung ist immer eine vollständige Darstellung des wirklichen Volkes und Staates. Es sind in demselben auch latente Kräfte, die mit der Zeit offenbar werden und eine Beachtung fordern, welche in der Beurkundung des Verfassungsrechtes keinen Anhalt finden, im Gegenteil durch dieselbe zuweilen ausgeschlossen scheinen. Neben dem geschriebenen Gesetz geht so das ungeschriebene einher und ergänzt und berichtigt jenes. Da ist es vornehmlich die Aufgabe der Politik, dem werdenden Rechte Anerkennung zu verschaffen und das bisher latente Recht zu schützen. Um deswillen kann sie sich nicht ängstlich an das geschriebene Wort halten und nicht durch die Schrift fesseln lassen". Wir können uns dieser Ansicht vollkommen anschließen. BLUNTSCHLI ist Naturrechtler in dem von uns erstrebten Sinne des Zusammenhangs von Recht und Sittlichkeit. Er ist von der Überzeugung durchdrungen, daß das geschriebene Recht nicht alle Freiheit und alle Handlungen des Menschen in sich fasse, und daß es ihm nicht allein zu gestatten habe, was er tun oder lassen müsse.

Im Gegensatz zum Naturrecht ist das Ziel der positiven Schule die Beseitigung der Idee der Gerechtigkeit und des Rechtes. Das

1) Politik als Wissenschaft. Stuttgart 1876, S. 25.

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