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Aber er muß sein Amt so verwalten, daß er die Pflicht eines Menschen, eines Fürsten und eines Christen vereint. Ein christlicher Fürst hat nicht die Macht, andere Völker, die unterschiedener Religion sind, ihrer Religion wegen mit Krieg zu überziehen. 1) Er kann auch anderer Fürsten Untertanen in seinem Lande Zuflucht vergönnen, wenn sie der Religion halber von ihren Fürsten verjagt sind. Was seine eigenen Untertanen betrifft, so ist es ausgemacht, daß ein christlicher Fürst dieselben zu seiner Religion nicht zwingen könne, nicht einen einzigen, geschweige denn alle. Er muß vielmehr ihre Lehrsätze auch dann dulden, wenn sie gleich von den seinigen abweichen. 2) Jedoch ist der Fürst nicht verpflichtet, unter dem Prätext der Religion solche Lehren zu dulden, die den allgemeinen Frieden stören und die allgemeine menschliche Pflicht aufheben. 3) Von der allgemeinen Toleranz ist der Atheist ausgenommen; doch darf der Fürst allen diesen Leuten keine bürgerlichen Strafen auferlegen, sondern sie nur des Landes verweisen. 4) THOMASIUS tritt auch energisch für die Erkenntnis und Bedeutung des Naturrechtes ein und zeigt dadurch, daß er an der geistigen Bewegung seiner Zeit vollen Anteil nimmt. Er appelliert stets und überall an die Vernunft und deren Gesetze. Weil es aber ein rechtschaffener Jurist sein muß, der zur Heilung der kranken Gerechtigkeit soll gebrauchet werden, so ist es auch eine ausgemachte Sache, daß er auch die Grundlehren des Naturund Völkerrechts wohl innehaben müsse."5) Wenn THOMASIUS in dieser Weise auf das allgemein Menschliche, d. h. das Vernünftige dringt, so gehört er nicht zu jenen Schwärmern und Phantasten, welche die Naturrechtsgegner meinen, wenn sie von den Anhängern des Naturrechts sprechen. Er beachtet sehr wohl die besonderen Verhältnisse, welche die zufällige Wirklichkeit der Anwendung des Naturrechts entgegenbringt, so wie es auch PUFENDORF in seinen Schriften jederzeit tut, besonders in seiner Verfassung des deutschen Reiches. Aus diesem Gesichtspunkte wendet sich THOMASIUS tadelnd gegen das römische Recht, weil es

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1) A. a. O. S. 27.

4) A. a. O. S. 38-39.

2) A. a. O. S. 30-31.

3) A. a. O. S. 33.

5) Ernsthaffte aber doch Muntere und Vernünfftige Thomasische Gedanken und Erinnerungen über allerhand auserlesene juristische Händel. Halle im Magdeburgischen 1720. II, 180-181.

töricht auf deutsche Verhältnisse angewendet werde, und ebenso gegen den vernunftlosen Gehrauch des positiven Rechtes. Welche praktische Anwendung er von der Idee des Naturrechtes zu machen weiß, kann man auch daraus ersehen, daß er aller Heuchelei, die in geistlichem Gewande unter dem Vorgeben eines absolut göttlichen, d. h. kirchlichen Anspruches auftritt, im Namen der Vernunft opponiert. Man müsse sich hüten, daß unter dem Deckel einer eingebildeten Billigkeit oder der christlichen Liebe in der gantzen Republique schädliches Recht eingeführt werde". 1)

Die Gefahr, das Gewohnheitsmäßige für natürlich zu nehmen, liegt nahe. Man liebt es, J. J. ROUSSEAU in dieser Weise zu interpretieren, sicher mit Unrecht, obwohl dieser energische Vertreter der Vernunft die ungeschriebenen Gesetze (es sind aber eben die noch zu findenden, die man schreiben wird, wenn Recht und Gerechtigkeit fortschreitend sich entwickeln,) in allzu nahe Berührung mit Gewohnheit (coutume) und Meinung bringt, wenn er im contrat social sagt: Zu den drei früher aufgeführten Gesetzen tritt noch eine vierte Art hinzu, die wichtigste von allen, qui ne se grave ni sur le marbre, ni sur l'airain, mais dans les coeurs des citoyens; qui fait la véritable constitution de l'état, qui prend tous les jours de nouvelles forces; qui, lorsque les autres lois vieillissent ou s'éteignent, les ranime ou les suplée, conserve un peuple dans l'esprit de son institution, et substitue insensiblement la force de l'habitude à celle de l'autorité. Je parle des moeurs, des coutumes, et surtout de l'opinion". 2)

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Doch muß man nur ROUSSEAU aus sich selbst korrigieren, um auch in der angeführten Stelle eine Wahrheit zu erkennen. Mag immerhin Gewohnheit, Sitte und Meinung den Anlaß zur Gesetzesbildung geben, die Vernunft darf nur ihren sittlichen Kern im Gesetze aufnehmen, das zugleich Gewohnheit, Sitte und Meinung zu lenken und zu höheren Zielen zu leiten hat. Deswegen sagt ROUSSEAU Il faut savoir ce qui doit être pour bien juger de ce qui est".3) Auszumachen aber, was sein soll, ist Sache der wissenschaftlichen Ethik; so werden Recht und Sittlichkeit hier aufs innigste verbunden.

1) A. a. O. S. 181. 2) II, 12. Oeuvres complets. Frankfurt a. M. 1855. 3) Emile II, 430.

Auch ROUSSEAU ebenso wie die Naturrechtslehrer spielt die Natur im Dienste der Sittlichkait und des Rechts aus. Der Sinn ist immer klar und eindeutig, der Ausdruck ist verfehlt. Wenn er in seinem Jugendwerke die Schäden und Gebrechen der Kultur scheinbar der Kultur selbst aufbürden will, so als ob sie mit ihrem Begriffe notwendig verbunden seien, zeigt sich doch bei näherem Zusehen, daß er nicht gegen die Kultur an sich, sondern gegen die Auswüchse der Kultur kämpft, und daß er unter dem irreführenden Ausdruck Natur selbst ein höheres Kulturideal aufzustellen bestrebt ist. Er war sich auch selbst darüber klar, daß jene Natur, von welcher er sprach, ein Ideal ist. Er hat selbst Angst davor in die Utopie zu geraten, , car ce n'est pas une légère entreprise de démêler ce qu'il y a d'originaire et d'artificiel dans la nature actuelle de l'homme, et de bien connaître un état qui n'existera jamais, et dont il est pourtant nécessaire d'avoir des notions justes, pour bien juger de nôtre état présent". 1) Ein Zustand, der weder je existiert hat noch in endlicher Zeit zu erreichen ist, ist eben ein Ideal, und seine Bedeutung für unsere Zeit kann nur die einer regulativen Idee sein. Vielleicht hat ROUSSEAU den Ausdruck Natur gewählt, weil nach seiner Meinung die politischen und pädagogischen Verbesserungen, die er forderte, zugleich auch eine Vereinfachung der Kultur zur Folge hätten und viele scheinbaren Kulturerzeugnisse, die in Wahrheit jedoch dem Mangel der Kultur entsprungen sind, verschwinden würden. So könnte man in der Tat von einer Rückkehr zur Natur reden.

Wir müssen, wenn wir uns anschicken, einen kurzen Blick auf jene Lehre zu werfen, welche den Staat auf einen Vertrag gründen will, uns immer vor Augen halten, daß es sich auch hierbei nicht um ein historisches Faktum, sondern um eine regulative Idee handeln muß. Ein ALTHUSIUS, HOBBES, LOCKE, SPINOZA, ROUSSEAU usw. wollten im Grunde nichts anderes als PLATON und THOMAS MORUS, nämlich ein ethischpolitisches Ziel aufrichten, dem gemäß der freie Wille und die praktische Vernunft der Menschen die Wirklichkeit und den Entwicklungsgang des sittlichen Geschehens umgestalten sollten. Aber

1) In der Vorrede zu der Schrift „Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes", III, S. 15.

freilich, sie haben gar manche Mißverständnisse herbeigeführt, indem sie die Staatengründung schilderten als einen zeitlichen Akt, durch welchen die Menschheit aus dem Naturzustande in den rechtlichen Zustand überging; es sei schon hier bemerkt, daß gerade darin das große Verdienst KANTS für die Staatslehre besteht, den Staat selbst und ebenso den Staatsvertrag in ihrer Bedeutung als regulative Idee mit genügender Klarheit durchschaut zu haben. Denn solange man jenen Staatsvertrag als ein zeitliches Ereignis auffaßt, wird der Staat in der Tat statt eines Erzeugnisses praktischer Vernunft zu einem Produkt der Willkür. Wir werden noch darauf hinweisen, wie die historische Rechtsschule, an ihrer Spitze SAVIGNY, wenn sie sich gegen die Vertragstheorie wendet, dies nur tut, weil sie im Vertrage die Willkür wittert. 1) Aber dies ist ein falscher, sophistischer Begriff des Vertrages, welcher in der Willkür des einzelnen wurzelt. Wenn der Vertrag die Grundlage des Rechts und folglich auch des Staates sein soll, so muß in ihm die Allheit der Menschen lebendig sein, so muß er statt eines Ausdruckes der Willkür ein Produkt der Vernunft und des Gesetzes sein.

Schon ROUSSEAU unterschied scharf die volonté générale von der volonté de tous. In seinem Staate sollte die volonté générale aber nicht die volonté de tous zum Ausdruck gelangen; und damit ist das Grundproblem aller Staatstheorie und -politik überhaupt in Wahrheit richtig getroffen. 2) Im wesentlichen findet sich diese Unterscheidung auch bei PUFENDORF in seiner Definition des Staates:,,Unde civitatis haec commodisima videtur definitio, quod sit persona moralis composita, cuius voluntas, ex plurium pactis implicita et unita, pro voluntate omnium habetur. 3) Wie der Begriff dieses Gesamtwillens näher zu bestimmen sei, darüber wird später noch zu sprechen sein. Es kann sich jedenfalls nicht um eine bloße Summierung der einzelnen handeln. Die Einheit der Willen bedeutet nicht die Summe der Willen; im Begriffe der juristischen Person, wie wir bei PUFENDORF sehen, gewinnt diese Einheit Realität, die unabhängig ist von der Anzahl, aber nicht von dem Willen der

1) F. C. v. SavIGNY, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 107-108, und H. COHEN, Ethik des reinen Willens. 1. Aufl., S. 237. 2) Contr. soc. II, 3.

3) De jure naturae et gentium. Frankfurt a. M. 1706, S. 931.

einzelnen. Bei ROUSSEAU ist dieser Gedanke noch nicht zu völliger Klarheit gekommen, denn sonst würde er nicht trotz jener grundlegenden Unterscheidung das Repräsentationssystem überhaupt verwerfen.

Jedenfalls haben schon HOBBES, LOCKE, ALTHUS, SPINOZA und andere deutlich gesehen, wie der einzelne seine sittliche Persönlichkeit erst im Staate gewinnt. Wenn HOBBES lehrte, daß es kein absolut Gutes und kein absolut Böses gebe, sondern daß erst das Verhältnis des einzelnen zum Gesetz des Staates die sittlichen Qualitäten herbeibringe (ubi societas, ibi jus est), so ist hierin dieselbe Tendenz zu erkennen wie in der Lehre von der volonté générale. Es ist im Grunde nicht allzu wichtig, wie jene verschiedenen Denker, die jus und societas in Korrelation setzen, sich den status naturalis im Gegensatz zum status civilis näher ausdenken, ob z. B., wie es bei GROTIUS, LOCKE und ROUSSEAU der Fall ist, dieser Naturzustand mehr ein Zustand des Friedens und der Glückseligkeit oder, wie bei HOBBES und SPINOZA, der Zustand des bellum omnium contra omnes ist. Es ist nicht von Belang, ob die Staatengründung auf die Geselligkeit (socialitas) oder auf die aus ihr entspringenden Vorteile gestützt wird. Der Unterschied möchte sich sehr einfach daraus erklären lassen, daß der Begriff der Natur selbst bei jenen Denkern schwankend und vieldeutig ist. Wir haben schon gesehen, wie ROUSSEAU den Begriff der Natur demjenigen der Kultur gleichsam als Ideal- und Leitbegriff entgegenstellt. In diesem Sinne kann natürlich der Naturzustand kein außersittlicher sein, sondern man könnte geradezu sagen, es müsse die Aufgabe des Staates sein, diesen Naturzustand zu befestigen und zu verewigen. Wenn aber unter dem Naturzustand jene Lage des Individuums verstanden wird, in welcher es sich noch nicht zur Anerkenntnis der volonté générale durchgerungen hat, sondern sein sittliches Sein in der Isolierung und in der Verfolgung egoistischer Interessen sucht, so muß der Naturzustand freilich als ein außersittlicher erscheinen. Viel wichtiger ist es, nachzuprüfen, wie sich die einzelnen Denker die Verwirklichung der volonté générale, d. h. eben der sittlichen Vernunft, im Staate gedacht haben. Hier ist des ALTHUSIUS zuerst zu gedenken, welcher die Souveränität und Nichtübertragbarkeit der Volksgewalt energisch bekämpfte. Auch HOBBES ist bemüht, der Vernunft im

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