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42.

In der menschlichen Natur finden sich niemals rühmliche Eigenschaften, ohne dass zugleich Abartungen derselben durch unendliche Schattierungen bis zur äussersten Unvollkommenheit übergehen sollten.

43.

Ich muss den Rousseau so lange lesen, bis mich die Schönheit des Ausdrucks gar nicht mehr stört, und dann kann ich allererst ihn mit Vernunft übersehen. Dass grosse Leute nur in der Ferne schimmern, und dass ein Fürst vor seinem Kammerdiener viel verliert, kommt daher, weil kein Mensch gross ist.

44.

Wovon man frühzeitig als ein Kind sehr viel weiss, davon ist man sicher, späterhin und im Alter nichts zu wissen, und der Mann der Gründlichkeit wird zuletzt höchstens der Sophist seines Jugendwahns.

45.

Es ist ein gewisser Geist der Kleinigkeiten (esprit des bagatelles), welcher eine Art von feinem Gefühl anzeigt, welches aber gerade auf das Gegenteil von dem Erhabenen abzielt. Ein Geschmack für etwas, weil er sehr künstlich und mühsam ist, Verse, die sich vor- und rückwärts lesen lassen, Rätsel, Uhren in Ringen, Flohketten etc. etc.; ein Geschmack für alles, was abgezirkelt, und auf peinliche Weise ordentlich, ob zwar ohne Nutzen ist, z. E. Bücher, die fein zierlich in langen Reihen im Bücherschranke stehen, und ein leerer Kopf, der sie ansieht, und sich erfreut; Zimmer, die wie optische Kasten geziert und überaus sauber gewaschen sind, zusammt einem ungastfreien und mürrischen Wirte, der sie bewohnt. Ein Geschmack an allem demjenigen, was selten ist, so wenig wie es auch sonst innern Wert haben mag. Epiktet's Lampe, ein Handschuh von König Karl dem Zwölften; in gewisser Art schlägt die Münzensucht mit hierauf ein. Solche Personen stehen sehr im Verdachte, dass sie in den Wissenschaften Grübler und Grillenfänger, in den Sitten aber für alles das, was auf freie Art schön oder edel ist, ohne Gefühl sein werden.

46.

Das Vorurteil ist recht für den Menschen gemacht, es thut der Bequemlichkeit und der Eigenliebe Vorschub, zweien Eigenschaften, die man nicht ohne die Menschheit ablegt. Derjenige, der von Vorurteilen eingenommen ist, erhebt gewisse Männer, die es umsonst sein würde zu verkleinern und zu sich herunter zu lassen, über alle Andere zu einer unersteiglichen Höhe. Dieser Vorzug bedecket alles Übrige mit dem Scheine einer vollkommenen Gleichheit, und lässt ihn den

Unterschied nicht gewahr werden, der unter diesen annoch herrschet, und der ihn sonst der verdriesslichen Beobachtung aussetzen würde, zu sehen, wie vielfach man noch von denjenigen übertroffen werde, die noch innerhalb der Mittelmässigkeit befindlich sind.

47.

Subtile Irrtümer sind ein Reiz für die Eigenliebe, welche die eigene Stärke gerne fühlt; offenbare Wahrheiten hingegen werden so leicht und durch einen so gemeinen Verstand eingesehen, dass es ihnen endlich so geht, wie jenen Gesängen, welche man nicht mehr ertragen kann, sobald sie aus dem Munde des Pöbels erschallen. Mit einem Worte: man schätzt gewisse Erkenntnisse öfters nicht darum hoch, weil sie richtig sind, sondern weil sie uns was kosten, und man hat nicht gerne die Wahrheit gutes Kaufs.

48.

Ein kleiner Teil derer, die sich das Urteil über Werke des Geistes anmassen, wirft kühne Blicke auf das Ganze eines Versuchs, und betrachtet vornehmlich die Beziehung, die die Hauptstücke zu einem tüchtigen Bau haben könnten, wenn man gewisse Mängel ergänzte oder Fehler verbesserte. Diese Art Leser ist es, deren Urteil dem menschlichen Erkenntnis vornehmlich nutzbar ist. Was die Übrigen anlangt, welche, unvermögend, eine Verknüpfung im Grossen zu übersehen, an einem oder andern kleinen Teile grüblerisch geheftet sind, unbekümmert, ob der Tadel, den es etwa verdiente, auch den Wert des Ganzen anfechte, und ob nicht Verbesserungen in einzelnen Stücken den Hauptplan, der nur in Teilen fehlerhaft ist, erhalten können, diese, die nur immer bestrebt sind, einen jeden angefangenen Bau in Trümmer zu verwandeln, können zwar um ihrer Menge willen zu fürchten sein, allein ihr Urteil ist, was die Entscheidung des wahren Wertes anlangt, bei Vernünftigen von wenig Bedeutung.

49.

Wer bei einer schönen Musik lange Weile hat, giebt starke Vermutung, dass die Schönheiten der Schreibart und die feinen Bezauberungen der Liebe wenig Gewalt über ihn haben werden.

50.

Ich möchte edleren Seelen wohl vorschlagen, das Gefühl in Ansehung derer Eigenschaften, die ihnen selbst zukommen, oder derer Handlungen, die sie selber thun, so sehr zu verfeinern, als sie können, dagegen in Ansehung dessen, was sie geniessen oder von Andern erwarten, den Geschmack in seiner Einfalt zu erhalten; wenn ich nur einsähe, wie dieses zu leisten möglich sei. In dem Falle aber, dass

es anginge, würden sie Andere glücklich machen und auch selbst glücklich sein. Es ist niemals aus den Augen zu lassen, dass, in welcher Art es auch sei, man keine sehr hohen Ansprüche auf die Glückseligkeiten des Lebens und die Vollkommenheit der Menschen machen müsse; denn derjenige, welcher jederzeit nur etwas Mittelmässiges erwartet, hat den Vorteil, dass der Erfolg selten seine Hoffnung widerlegt, dagegen bisweilen ihn auch wohl unvermutete Vollkommenheiten überraschen.

51.

Es ist mehrenteils umsonst, das kleine Mass seiner Kraft auf alle windichte Entwürfe ausdehnen zu wollen. Daher gebeut die Klugheit, den Zuschnitt der Entwürfe den Kräften angemessen zu machen, und wenn man das Grosse nicht füglich erreichen kann, sich auf das Mittelmässige einzuschränken.

52.

Man kann entweder seine üppige Neigung einschränken, oder, indem man sie beibehält, Gegenmittel wider ihre Wirkungen erfinden. Zu den letzteren gehören Wissenschaften und Verachtung des Lebens.

53.

Selbst die feinste Eitelkeit, wenn sie sich wohl versteht, wird bemerken, dass nicht weniger Verdienst dazu gehört, sich überzeugen zu lassen als selbst zu überzeugen, und dass jene Handlung vielleicht mehr wahre Ehre macht, insoferne mehr Entsagung und Selbstprüfung dazu als zu der andern erfordert wird.

54.

Ich kann einen Anderen niemals überzeugen, als durch seine eigenen Gedanken. Ich muss also voraussetzen, der Andere habe einen guten und richtigen Verstand; sonst ist es vergeblich zu hoffen, er werde durch meine Gründe können gewonnen werden. Ebenso kann ich Niemand moralisch rühren, als durch seine eigenen Empfindungen; ich muss also voraussetzen, der Andere habe eine gewisse Bonität des Herzens; sonst wird er bei meiner Schilderung des Lasters niemals Abscheu und bei meiner Anpreisung der Tugend niemals eine Triebfeder dazu in sich fühlen.

55.

Ich kann Niemand besser machen, als durch den Rest des Guten, das in ihm ist; ich kann Niemand klüger machen, als durch den Rest der Klugheit, die in ihm ist.

Richter, Dr. R., Kantaussprüche.

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56.

Ich stehe in der Einbildung, es sei zuweilen nicht unnütz, ein gewisses edles Vertrauen in seine eigenen Kräfte zu setzen. Eine Zuversicht von der Art belebt alle unsere Bemühungen, und erteilet ihnen einen gewissen Schwung, welcher der Untersuchung der Wahrheit sehr beförderlich ist.

57.

Unsere innere Empfindung, und die darauf gegründeten Urteile des Vernunftähnlichen führen, so lange sie unverderbt sind, eben dahin, wo die Vernunft hinleiten würde, wenn sie erleuchteter und ausgebreiteter wäre.

58.

Das arkadische Schäferleben und unser geliebtes Hofleben ist beides abgeschmackt und unnatürlich, obzwar anlockend. Denn niemals kann wahres Vergnügen da stattfinden, wo man es zur Beschäftigung macht. Die Erholungen von einer Beschäftigung, die selten, aber kurz und ohne Zurüstung sind, sind allein dauerhaft und von echtem Geschmacke.

59.

Man schätzt Manchen viel zu hoch, als dass man ihn lieben könnte. Er flösst Bewunderung ein; aber er ist zu weit über uns, als dass wir mit der Vertraulichkeit der Liebe uns ihm zu nähern getrauen.

60.

Eine Ursache, weswegen die Vorstellung des Todes die Wirkung nicht thut, die sie haben könnte, ist, weil wir von Natur als geschäftige Wesen billig gar nicht daran denken sollen.

61.

Der, dessen Gefühl ins Melancholische einschlägt, wird nicht darum so genannt, weil er, der Freuden des Lebens beraubt, sich in finsterer Schwermut härmt, sondern weil seine Empfindungen, wenn sie über einen gewissen Grad vergrössert würden, oder durch einige Ursachen eine falsche Richtung bekämen, auf dieselbe leichter als auf einen andern Zustand auslaufen würden. Er hat vorzüglich ein Gefühl für das Erhabene. Selbst die Schönheit, für welche er ebensowohl Empfindung hat, muss ihn nicht allein reizen, sondern, indem sie ihm zugleich Bewunderung einflösst, rühren. Der Genuss der Vergnügen ist bei ihm ernsthafter, aber um deswillen nicht geringer. Alle Rührungen des Erhabenen haben mehr Bezauberndes an sich als die gaukelnden Reize des Schönen. Sein Wohlbefinden wird eher Zufriedenheit als Lustigkeit sein. Er ist standhaft. Um deswillen

ordnet er seine Empfindungen unter Grundsätze. Sie sind desto weniger dem Unbestande und der Veränderung unterworfen, je allgemeiner dieser Grundsatz ist, welchem sie untergeordnet werden, und je erweiterter also das hohe Gefühl ist, welches die niederen unter sich befasst.

62.

Der Mensch von melancholischer Gemütsverfassung bekümmert sich wenig darum, was Andere urteilen, was sie für gut oder für wahr halten; er stützt sich deshalb blos auf seine eigene Einsicht. Weil die Bewegungsgründe in ihm die Natur der Grundsätze annehmen, so ist er nicht leicht auf andere Gedanken zu bringen; seine Standhaftigkeit artet auch zuweilen in Eigensinn aus. Er sieht den Wechsel der Moden mit Gleichgültigkeit und ihren Schimmer mit Verachtung an. Freundschaft ist erhaben, und daher für sein Gefühl. Er kann vielleicht einen veränderlichen Freund verlieren; allein dieser verliert ihn nicht ebensobald. Selbst das Andenken der erloschenen Freundschaft ist ihm noch ehrwürdig. Gesprächigkeit ist schön, gedankenvolle Verschwiegenheit erhaben. Er ist ein guter Verwahrer seiner und Anderer Geheimnisse. Wahrhaftigkeit ist erhaben, und er hasst Lügen oder Verstellung. Er hat ein hohes Gefühl von der Würde der menschlichen Natur. Er schätzt sich selbst, und hält einen Menschen für ein Geschöpf, das da Achtung verdient. Er erduldet keine verworfene Unterthänigkeit, und atmet Freiheit in einem edlen Busen. Alle Ketten, von den vergoldeten an, die man am Hofe trägt, bis zu dem schweren Eisen des Galeerensklaven, sind ihm abscheulich. Er ist ein strenger Richter seiner selbst und Anderer, und nicht selten seiner sowohl, als der Welt überdrüssig.

63.

Der von sanguinischer Gemütsverfassung hat ein herrschendes Gefühl für das Schöne. Seine Freuden sind daher lachend und lebhaft. Wenn er nicht lustig ist, so ist er missvergnügt, und kennt wenig die zufriedene Stille. Mannigfaltigkeit ist schön, und er liebt die Veränderung. Er sucht die Freude in sich und um sich, belustigt Andere, und ist ein guter Gesellschafter. Er hat viel moralische Sympathie. Anderer Fröhlichkeit macht ihn vergnügt, und ihr Leid weichherzig. Sein sittliches Gefühl ist schön, allein ohne Grundsätze, und hängt jederzeit unmittelbar von dem gegenwärtigen Eindrucke ab, den die Gegenstände auf ihn machen. Er ist ein Freund von allen Menschen, oder, welches einerlei sagen will, eigentlich niemals ein Freund, ob er zwar gutherzig und wohlwollend ist. Er

verstellt sich nicht. Er wird euch heute mit seiner Freundlichkeit und guten Art unterhalten, morgen, wenn ihr krank oder im Unglücke seid, wahres und ungeheucheltes Beileid empfinden, aber sich sachte

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