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Vernunft ist zwar ein thätiges Princip, das nichts von bloßer Autorität Anderer entlehnen soll. Aber die Trägheit sehr vieler Menschen macht, daß sie lieber in Anderer Fußstapfen treten, als ihre eigenen Verstandeskräfte anstrengen. Dergleichen Menschen können immer nur Copien von Andern werden, und wären Alle von der Art, so würde die Welt ewig auf einer und derselben Stelle bleiben. Es ist daher höchst nöthig und wichtig, die Jugend nicht, wie es gewöhnlich geschieht, zum bloßen Nachahmen anzuhalten.

Aus den vorhin angegebenen drei allgemeinen Quellen der Vorurtheile und insbesondere aus der Nachahmung entspringen nun so manche besondere Vorurtheile, unter denen wir folgende als die gewöhnlichsten berühren wollen.

1. Vorurtheile des Ansehens. - Zu diesen ist zu rechnen:

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a) Das Vorurtheil des Ansehens der Person. Wenn wir in Dingen, die auf Erfahrung und Zeugnissen beruhen, unsre Erkenntniß auf das Ansehen anderer Personen bauen: so machen wir uns dadurch keiner Vorurtheile schuldig; denn in Sachen dieser Art muß, da wir nicht Alles selbst erfahren und mit unserm eigenen Verstande umfassen können, das Ansehen der Person die Grundlage unserer Urtheile seyn. Wenn wir aber das Ansehen Anderer zum Grunde unsers Fürwahrhaltens in Absicht auf Vernunfterkenntnisse machen: so nehmen wir diese Erkenntnisse auf bloßes Vorurtheil an. Denn Vernunftwahrheiten gelten anonymisch; hier ist nicht die Frage: wer hat es gesagt, sondern was hat er gesagt? Es liegt nichts daran, ob ein Erkenntniß von edler Herkunft ist; aber dennoch ist der Hang zum Ansehen großer Männer sehr gemein, theils wegen der Eingeschränktheit eigener Einsicht, theils aus Be= gierde, dem nachzuahmen, was uns als groß beschrieben wird. Hierzu kommt noch: daß das Ansehen der Person dazu dient, unsrer Eitelkeit auf eine indirecte Weise zu schmeicheln. So wie nämlich die Unterthanen eines mächtigen

Despoten stolz darauf sind, daß sie nur Alle gleich von ihm behandelt werden, indem der Geringste mit dem Vornehmsten insofern sich gleich dünken kann, als sie Beide gegen die unumschränkte Macht ihres Beherrschers Nichts sind: so beurtheilen sich auch die Verehrer eines großen Mannes als gleich, sofern die Vorzüge, die sie unter einander selbst haben mögen, gegen die Verdienste des großen Mannes betrachtet, für unbedeutend zu achten sind. Die hochgepriesenen großen Männer thun daher dem Hange zum Vorurtheile des Ansehens der Person aus mehr als einem Grunde feinen geringen Vorschub.

b) Das Vorurtheil des Ansehens der Menge. 3u diesem Vorurtheil ist hauptsächlich der Pöbel geneigt. Denn da er die Verdienste, die Fähigkeiten und Kenntnisse der Person nicht zu beurtheilen vermag: so hält er sich lieber an das Urtheil der Menge, unter der Voraussetzung, daß das, was Alle sagen, wohl wahr seyn müsse.

c) Das Vorurtheil des Ansehens des Zeitalters. Hier ist das Vorurtheil des Alterthums eines der bedeutendsten. -Wir haben zwar allerdings Grund, vom Alterthum günstig zu urtheilen; aber das ist nur ein Grund zu einer gemäßigten Achtung, deren Grenzen wir nur zu oft dadurch überschreiten, daß wir die Alten zu Schatzmeistern der Erkenntnisse und Wissenschaften machen, den relativen Werth ihrer Schriften zu einem absoluten erheben und ihrer Leitung uns blindlings anvertrauen. — Die Alten so übermächtig schätzen heißt: den Verstand in seine Kinderjahre zurückführen und den Gebrauch des selbsteigenen Talentes vernachlässigen.

Es giebt mehrere Ursachen, durch die das Vorurtheil des Alterthums erzeugt und unterhalten wird.

Wenn Etwas die Erwartung nach einer allgemeinen Regel übertrifft, so verwundert man sich anfangs darüber und diese Verwunderung geht sodann oft in Bewunderung über. Dieses ist der Fall mit den Alten, wenn man bei

ihnen Etwas findet, was man, in Rücksicht auf die Zeitumstände, unter welchen sie lebten, nicht suchte. Eine andere Ursache liegt in dem Umstande, daß die Kenntniß von den Alten und dem Alterthum eine Gelehrsamkeit und Belesenheit beweist, die sich immer Achtung erwirbt, so ge= mein und unbedeutend die Sachen an sich selbst seyn mögen, die man aus dem Studium der Alten geschöpft hat. Eine dritte Ursache ist die Dankbarkeit, die wir den Alten dafür schuldig sind, daß sie uns die Bahn zu vielen Kenntnissen gebrochen. Es scheint billig zu seyn, ihnen dafür eine besondere Hochschätzung zu beweisen, deren Maß wir aber überschreiten. Eine vierte Ursache ist endlich zu suchen in einem gewissen Neide gegen die Zeitgenossen. Wer es mit den Neuern nicht aufnehmen kann, preist auf Unkosten derselben die Alten hoch, damit sich die Neuern nicht über ihn erheben können.

Das Entgegengesetzte von diesem ist das Vorurtheil der Neuigkeit. Bei Erkenntnissen, die einer Erweiterung fähig sind, ist es sehr natürlich, daß wir in die Neuern mehr Zutrauen setzen, als in die Alten. Aber dieses Urtheil hat auch nur Grund als ein bloßes vorläufiges Urtheil. Machen wir es zu einem bestimmenden, so wird es Vorurtheil.

2. Vorurtheile aus Eigenliebe oder logischem Egoismus, nach welchem man die Uebereinstimmung des eigenen Urtheils mit den Urtheilen Anderer für ein entbehrliches Kriterium der Wahrheit hält. Sie sind den Vorurtheilen des Ansehens entgegengesetzt, da sie sich in einer gewissen Vorliebe für das äußern, was ein Product des eigenen Verstandes ist, z. B. des eigenen Lehrgebäudes. (III, 249—57.)

Ob es gut und rathsam sei, Vorurtheile stehen zu lassen oder sie wohl gar zu begünstigen? Es ist zum Erstaunen, daß unserm Zeitalter dergleichen Fragen,

besonders die wegen der Begünstigung der Vorurtheile, noch können aufgegeben werden. Jemandes Vorurtheile begünstigen, heißt ebenso viel als Jemanden in guter Absicht betrügen. Vorurtheile unangetastet lassen, ginge noch an; denn wer kann sich damit beschäftigen, eines Jeden Vorurtheile aufzudecken und wegzuschaffen? Ob es aber nicht rathsam seyn sollte, an ihrer Ausrottung mit allen Kräften zu arbeiten?

das ist doch eine andere Frage. Alte und eingewurzelte Vorurtheile sind freilich schwer zu bekämpfen, weil sie sich selbst verantworten und gleichsam ihre eigenen Richter sind. Auch sucht man das Stehenlassen der Vorurtheile damit zu entschuldigen, daß aus ihrer Ausrottung Nachtheile entstehen würden. Aber man laffe diese Nachtheile nur immer zu; in der Folge werden sie desto mehr Gutes bringen. (III, 257.)

Das Vorurtheil ist recht für die Menschen gemacht, es thut der Bequemlichkeit und der Eigenliebe Vorschub, zweien Eigenschaften, die man nicht ohne die Menschheit ablegt.

So lange die Eitelkeit der menschlichen Gemüther noch mächtig seyn wird, so lange wird sich das Vorurtheil auch erhalten, d. i. es wird niemals aufhören. (V, 7.)

Aus der Natur des Irrthums, in dessen Begriffe, außer der Falschheit, noch der Schein der Wahrheit als ein wesentliches Merkmal enthalten ist, ergiebt sich für die Wahrheit unsers Erkenntnisses folgende wichtige Regel:

Um Irrthümer zu vermeiden — und unvermeidlich ist wenigstens absolut oder schlechthin kein Irrthum, ob er es gleich beziehungsweise seyn kann für die Fälle, da es, selbst auf die Gefahr zu irren, unvermeidlich für uns ist, zu urtheilen also um Irrthümer zu vermeiden, muß man die Quelle derfelben, den Schein, zu entdecken und zu er=

klären suchen. Das haben aber die wenigsten Philosophen gethan. Sie haben nur die Irrthümer selbst zu widerlegen gesucht, ohne den Schein anzugeben, woraus sie entspringen. Diese Aufdeckung und Auflösung des Scheines ist aber ein weit größeres Verdienst um die Wahrheit, als die directe Widerlegung der Irrthümer selbst, wodurch man die Quelle derselben nicht verstopfen und es nicht verhüten kann, daß der nämliche Schein, weil man ihn nicht fennt, in andern Fällen wiederum zu Irrthümern verleite. Denn sind wir auch überzeugt worden, daß wir geirrt haben: so bleiben uns doch, im Fall der Schein selbst, der unserm Irrthum zum Grunde liegt, nicht gehoben ist, noch Scrupel übrig, so wenig wir auch zu deren Rechtfertigung vorbringen

können.

Durch Erklärung des Scheins läßt man überdies auch dem Frrenden eine Art von Billigkeit widerfahren. Denn es wird Niemand zugeben, daß er ohne irgendeinen Schein der Wahrheit geirrt habe, der vielleicht auch einen Scharfsinnigen hätte täuschen können, weil es hierbei auf subjective Gründe ankommt.

Ein Irrthum, wo der Schein auch dem gemeinen Verstande offenbar ist, heißt eine Abgeschmacktheit oder Ungereimtheit. Der Vorwurf der Absurdität ist immer ein persönlicher Tadel, den man vermeiden muß, insbesondere bei Widerlegung der Irrthümer.

Denn demjenigen, welcher eine Ungereimtheit behauptet, ist selbst doch der Schein, der dieser offenbaren Falschheit zum Grunde liegt, nicht offenbar. Man muß ihm diesen Schein erst offenbar machen. Beharrt er auch alsdann noch dabei, so ist er freilich abgeschmackt; aber dann ist auch weiter nichts mit ihm anzufangen. Er hat sich dadurch aller weitern zurechtweisung und Widerlegung ebenso unfähig als unwürdig gemacht. Denn man kann eigentlich Keinem beweisen, daß er ungereimt sey; hierbei wäre alles Vernünfteln vergeblich. Wenn man die Ungereimtheit beweist,

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