Page images
PDF
EPUB

Immanuel Kant's

kleinere Schriften

zur

Logik und Metaphysik.

Herausgegeben und erläutert

von

J. H. von Kirchmann.

Zweite Abtheilung.

Berlin, 1870.

Verlag von L. Heiman n.

Wilhelms-Strasse No. 91.

Der Name der Philosophie ist, nachdem er seine erste Bedeutung: einer wissenschaftlichen Lebensweisheit, verlassen hatte, schon sehr früh als Titel der Ausschmückung des Verstandes nicht gemeiner Denker in Nachfrage gekommen, für welche sie jetzt eine Art von Enthüllung eines Geheimnisses vorstellte. Den Asceten in der makarischen Wüste hiess ihr Mönchsthum die Philosophie. Der Alchemist nannte sich philosophus per ignem. Die Logen alter und neuer Zeiten sind Adepten eines Geheimnisses durch Tradition, von welchem sie uns missgünstiger Weise nichts aussagen wollen (philosophus per initiationem). Endlich sind die neuesten Besitzer desselben diejenigen, welche es in sich haben, aber unglücklicher Weise es nicht aussagen und durch Sprache allgemein mittheilen können (philosophus per inspirationem). Wenn es nun ein Erkenntniss des Uebersinnlichen (das, in theoretischer Absicht, allein ein wahres Geheimniss ist,) gäbe, welches zu enthüllen in praktischer Absicht dem menschlichen Verstande allerdings möglich ist; so würde doch ein solches aus demselben, als einem Vermögen der Erkenntniss durch Begriffe, demjenigen weit nachstehen, welches als ein Vermögen der Anschauung unmittelbar durch den Verstand wahrgenommen werden könnte; denn der discursive Verstand muss vermittelst der ersteren viele Arbeit zu der Auflösung, und wiederum der Zusammensetzung seiner Begriffe nach Principien verwenden, und viele Stufen mühsam besteigen, um im Erkenntniss Fortschritte zu thun, statt dessen eine intellectuelle Anschauung den Gegenstand unmittelbar und auf einmal fassen und darstellen würde. Wer sich also im Besitz der letztern zu sein dünkt, wird auf den

erstern mit Verachtung herabsehen; und umgekehrt ist die Gemächlichkeit eines solchen Vernunftgebrauchs eine starke Verleitung, ein dergleichen Anschauungsvermögen dreist anzunehmen, imgleichen eine darauf gegründete Philosophie bestens zu empfehlen; welches sich auch aus dem natürlichen selbstsüchtigen Hange der Menschen, dem die Vernunft schweigend nachsieht, leicht erklären lässt.

-

Es liegt nämlich nicht bloss in der natürlichen Trägheit, sondern auch in der Eitelkeit der Menschen (einer missverstandenen Freiheit), dass die, welche zu leben haben, es sei reichlich oder kärglich, in Vergleichung mit denen, welche arbeiten müssen, um zu leben, sich für Vornehme halten. Der Araber oder Mongole verachtet den Städter, und dünkt sich vornehm in Vergleichung mit ihm, weil das Herumziehen in den Wüsten mit seinen Pferden und Schafen mehr Belustigung, als Arbeit ist. Der Waldtunguse meint seinem Bruder einen Fluch an den Hals zu werfen, wenn er sagt: ,,dass du dein Vieh selber erziehen magst, wie der Buräte!" Dieser giebt die Verwünschung weiter ab, und sagt: „dass du den Acker bauen magst, wie der Russe!" Der Letztere wird vielleicht nach seiner Denkungsart sagen: „dass du am Weberstuhl sitzen magst, wie der Deutsche!" Mit einem Wort: alle dünken sich vornehmer, nach dem Maasse als sie glauben, nicht arbeiten zu dürfen; und nach diesem Grundsatz ist es neuerdings so weit gekommen, dass sich eine vorgebliche Philosophie, bei der man nicht arbeiten, sondern nur das Orakel in sich selbst anhören und geniessen darf, um die ganze Weisheit, auf die es mit der Philosophie angesehen ist, von Grunde aus in seinen Besitz zu bringen, unverhohlen und öffentlich ankündigt; und dies zwar in einem Tone, der anzeigt, dass sie sich mit denen, welche schulmässig von der Kritik ihres Erkenntnissvermögens zum dogmatischen Erkenntniss langsam und bedächtig fortzuschreiten sich verbunden halten, in eine Linie zu stellen gar nicht gemeinet sind, sondern geniemässig durch einen einzigen Scharfblick auf ihr Inneres alles das, was Fleiss nur immer verschaffen mag, und wohl noch mehr zu leisten im Stande sind. Mit Wissenschaften, welche

« PreviousContinue »