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wissenschaft ist deshalb Metaphysik der Natur. Ihre Frage heißt: was kann von der Natur erkannt werden durch den reinen Verstand oder durch reine Begriffe?

Die Kritik hat gezeigt, daß es eine Metaphysik der Natur giebt. Es ist jetzt die erste Aufgabe des Systems, diese Wissenschaft auszu= bilden und den Inhalt der naturphilosophischen Erkenntniß zu entwickeln. Die Naturphilosophie ist gleichsam der eine Flügel in dem Lehrgebäude der reinen Vernunft, dessen zweiter die Moralphilosophie sein soll. In den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“ vom Jahre 1786 löst Kant jene Aufgabe, die zwar nicht in der Zeitfolge seiner Arbeiten, wohl aber in der Grundlegung seines Systems als die nächste erscheint.

2. Seelenlehre und Körperlehre.

Doch will das Thema noch näher begrenzt sein. Wir hatten soeben die Naturwissenschaft nach ihren Erkenntnißgründen in die empirische und rationale, und die lettere in die mathematische und metaphysische unterschieden, wir müssen sie jezt auch nach ihren Objecten unterscheiden. Die Natur im Sinne der kritischen Philosophie bildet den Inbegriff aller Erfahrungsobjecte, diese sind die äußeren und inneren Erschein= ungen: die Erkenntniß der äußeren Erscheinungen ist die Körperlehre oder Physik, die der inneren die Psychologie. Es ist ausführlich bewiesen worden, daß es eine rationale Psychologie (reine Naturwissenschaft der inneren Erscheinungen) nicht giebt. Also bleibt als das einzige Object einer reinen Naturwissenschaft nur die Körperwelt übrig; es kann sich nur noch um eine metaphysische Körperlehre handeln oder um die Frage: was ist von der Körperwelt durch bloße Begriffe erkennbar?

Reine Mathematik kann die Naturwissenschaft nicht und in keinem ihrer Gebiete sein, denn es giebt kein Object der naturwissenschaftlichen Erfahrung, kein empirisches Object, welches bloß durch Construction entsteht und lediglich Product unserer Anschauung ist, d. h. ein Gegenstand, dessen Dasein die Vernunft selbst hervorbringt. Aber die verschiedenen Gebiete der Naturwissenschaft können der Mathematik näher oder ferner liegen, die Anwendung der letzteren auf die Naturwissenschaft findet in dem einen Gebiete einen größeren Spielraum als in dem anderen. Und hier gilt der schon erklärte Sat: je mehr Mathematik in einem Gebiete der Naturlehre anzutreffen ist, um so mehr liegt dieses Gebiet innerhalb der reinen Vernunftwissenschaft; je weniger dagegen die Mathematik in

einem naturwissenschaftlichen Gebiete einheimisch geworden ist oder je werden kann, um so mehr ist die Naturwissenschaft in diesem Theile unsichere Empirie und bloße Erperimentallehre. So ist die Chemie um so wissenschaftlicher geworden, je mehr die mathematische Einsicht in ihr zugenommen hat. Als Kant seine metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft schrieb, war die Chemie von der Mathematik noch wenig durchdrungen. Er durfte sie als ein Beispiel der bloßen Empirie und Experimentallehre anführen.

Wo aber die räumliche Anschauung überhaupt aufhört, da findet begreiflicherweise die Mathematik auch die geringste Anwendung; darum ist sie am wenigsten anwendbar auf das gesammte Gebiet der inneren Erscheinungen, auf die Psychologie. Hier ist der Grund, warum die Psychologie von dem Range einer reinen Vernunftwissenschaft so weit entfernt ist: weil sie der Mathematik so wenig Spielraum bietet, weil keines ihrer Objecte eine räumliche An= schauung erlaubt. Allerdings sind ihre Objecte, die Vorstellungen, Neig= ungen, Begierden u. s. f. zugleich Größen, diese Größen haben ihren Grad, diese Grade sind der Veränderung, diese inneren Veränderungen sind dem Gesetze der Continuität unterworfen. Aber keine dieser Größen und Veränderungen lassen sich construiren. Daher hat die Mathematik in dem Gebiete der Seelenlehre einen so kleinen und unsicheren Spielraum, während sie in dem Gebiet der Körperlehre einen vollkommen sicheren und sehr umfassenden beschreibt. So groß ist der Unterschied beider, daß sich der mathematische Spielraum in der Psychologie zu dem in der Physik verhält, wie die Lehre von der geraden Linie zur ganzen Geometrie. Denn die Objecte der Psychologie sind nur in der Zeit, und die Zeit hat nur eine Dimension, sie läßt sich nur unter dem Bilde oder Schema der geraden Linie vorstellen. Ohne Rücksicht auf diese Grenze hat in der nachkantischen Zeit Herbart den Versuch gemacht, die Mathematik auf umfassende Weise in das Gebiet der Seelenlehre einzuführen. 1

3. Die metaphysische Körperlehre. Materie und Bewegung. Die kantische Naturphilosophie beschränkt sich demnach auf die metaphysische Körperlehre. Nun setzen alle Erscheinungen der Körperwelt ein Dasein im Raume voraus, das ihnen zu Grunde liegt; dieses be= 1 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. (Bd. VIII. S. 445 u. 446.)

harrliche Dasein ist die Substanz der Körperwelt oder die Materie. Nach Abzug der Materie sind die räumlichen Erscheinungen nichts als geometrische Größen. Es ist die Materie, die ihnen den körperlichen Bestand giebt; es ist also die Materie, wodurch sich die physikalischen Körper von den geometrischen, die Objecte der Naturwissenschaft von denen der Mathematik unterscheiden. Und so läuft das ganze Problem der philosophischen Naturwissenschaft oder der metaphysischen Körperlehre auf die Frage hinaus: was kann von der Materie oder der körperlichen Natur durch reine Begriffe erkannt werden?

Die Materie ist nur in ihren Erscheinungsformen erkennbar. Ihre Erscheinungsform ist die Art, wie sie sich äußert oder wahrnehmbar macht, wie sie wirkt; sie ist die Substanz der Körper, welche selbst nichts anderes find als äußere Erscheinungen. Diese Erscheinungen find Modificationen der Substanz, Veränderungen der Materie; nun sind alle materiellen Veränderungen räumlich und alle Veränderungen im Raume Bewegungen: also ist es die Bewegung, worin die Wirkungsweise der Materie besteht. Und da die Materie nur in ihrer Wirkungsweise oder Erscheinung erkennbar ist, so ist die Bewegung das Object der metaphysischen Körperlehre. Damit ist der Charakter und die Grundfrage der kantischen Naturphilosophie bestimmt: sie ist Bewegungslehre. Ihre Grundfrage heißt: was kann von der Bewegung a priori oder durch bloße Begriffe erkannt werden?

Die reinen Begriffe sind die Kategorien der Quantität, Qualität, Relation und Modalität. Diese Begriffe waren die Bedingungen für die Möglichkeit aller Erfahrung, also auch die Bedingungen für alle Objecte einer möglichen Erfahrung, also auch (da die Bewegung ein solches Object ist) die Principien der Bewegung. Sie sind mithin die a priori erkennbaren Grundbestimmungen der materiellen Bewegung. Demnach theilt sich die Grundfrage der kantischen Naturphilosophie in vier Hauptuntersuchungen, betreffend die Quantität, Qualität, Relation und Modalität der Bewegung.

Die Quantität der Bewegung ist die Bewegung als Größe be= trachtet, als Raumgröße, d. h. als räumliche Veränderung oder pópos, um den aristotelischen Ausdruck zu brauchen. Die räumliche Ver= änderung kann betrachtet werden, abgesehen von der materiellen Verånderung. Das Subject der räumlichen Veränderung (die bewegliche Materie) kann jeder beliebige Körper sein, sie kann auch bloß als ein mathematischer Punkt vorgestellt werden. Das Moment der Masse

kommt unter dem Gesichtspunkte der Quantität noch nicht in Betracht. Die Bewegungslehre bloß unter diesem Gesichtspunkt heißt „die Pho= ronomie"; sie ist, wie es ihre Betrachtungsweise mit sich bringt, das mathematische Gebiet innerhalb der metaphysischen Körperlehre, denn die Bewegung, deren Subject durch einen mathematischen Punkt vor= gestellt werden kann, läßt sich anschaulich darstellen oder construiren.

Die Qualität der Bewegung ist die Bewegung als Eigenschaft der Materie, als deren eigenthümliche Aeußerung und Wirkungsart. Gilt die Bewegung als Wirkung der Materie, so muß diese als Ursache oder Kraft der Bewegung betrachtet werden. Unter diesem Gesichtspunkte ist die Aufgabe der Bewegungslehre die Erkenntniß der bewegenden (materiellen) Kräfte oder „die Dynamik". Die Relation der Bewegung ist das Verhältniß oder der gesetzmäßige Zusammenhang, in dem die bewegten Körper auf einander einwirken: die Erkenntniß dieser Bewegungsgefeße ist die Mechanik". Endlich die Modalität der Bewegung ist die Bewegung, sofern sie betrachtet wird als eine mög= liche, wirkliche oder nothwendige Erscheinung. Nun sind diese Be= stimmungen ganz abhängig von unserer Vorstellungsweise, sie betreffen die Art, wie uns etwas erscheint. Darum hat Kant diesen lezten Theil der reinen Bewegungslehre als Phänomenologie" bezeichnet.

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Die vier Hauptaufgaben der kantischen Naturphilosophie sind dem= nach: Phoronomie, Dynamik, Mechanik und Phänomenologie, welche der Folge und dem System der reinen Verstandesbegriffe entsprechen. Ihr gemeinschaftlicher Grundbegriff ist die Bewegung. Darum wird vor allem dieser Begriff genau und kritisch bestimmt werden müssen. Was ist Bewegung, als äußere Erscheinung betrachtet?

Jener neue Lehrbegriff, den Kant achtundzwanzig Jahre früher in einem seiner Vorlesungsprogramme ausgeführt hatte, um die durchgängige Relativität der Bewegung und Ruhe darzuthun, erscheint bereits als eine Vorschule zu seiner metaphysischen Körperlehre. Da wir den Inhalt dieser Schrift in dem Ideengange des Philosophen an ihrem Orte entwickelt haben, so verweisen wir auf unsere im vorigen Bande enthaltene Darstellung, welche sich der Leser hier von neuem vergegenwärtigen möge.2

1 Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe und der damit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der Naturwissenschaft. (1758.) Hartenstein: J. Kants Werke. Bd. VIII. S. 428-438. 2 Vgl. dieses Werk. Bd. IV. Buch I. Cap. VII. S. 124. Cap. IX. S. 152 u. 153.

II. Das Problem der Phoronomie.

1. Relativer und absoluter Raum.

Das Subject der Bewegung ist die Materie, jenes Etwas im Raum, wodurch sich der physische Körper vom mathematischen unterscheidet. Wir können darum die Materie einfach erklären als „das Bewegliche im Raum“. Wenn wir zunächst absehen von ihrer Masse und an die Stelle der Materie (des Beweglichen im Raum) den mathematischen Punkt sehen, so bleibt als Bewegung nur eine Linie übrig, welche der Punkt nach einer bestimmten Richtung in einer bestimmten Zeit beschreibt oder durchläuft; es bleibt nur die Richtung und Ge= schwindigkeit der Bewegung: die Bewegung bloß als Raum- und Zeitgröße. Die Bewegung, lediglich als Größe betrachtet, ist demnach der erste Gegenstand der metaphysischen Körperlehre, die Aufgabe der Phoronomie.

Was die Richtung betrifft, so sind folgende Fälle denkbar: ent= weder der Körper bewegt sich nur in seinem Orte, ohne diesen selbst zu verändern, d. h. er dreht sich, oder er verändert seinen Ort in Rücksicht auf andere Körper, d. h. er schreitet sort; die fortschreitende Bewegung kann in geraden oder krummen Linien stattfinden, die krummen Linien sind entweder in sich zurückkehrend oder nicht, die in sich zurückkehrenden beschreiben eine kreisförmige oder pendularische (circulirende oder oscillirende) Bewegung.

Da in der Phoronomie als das Bewegliche der mathematische Punkt gilt, so wird hier nur von der fortschreitenden Bewegung die Rede sein, und zwar in der einfachsten Form der geraden Linie. Die Geschwindigkeit ist der bestimmte, durch die Zeit gemessene Raum, das directe Verhältniß der Raum- und Zeitgröße: C

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Ein Körper bewegt sich in fortschreitender Richtung, er verändert seinen Ort im Raum, d. H. seine räumlichen Verhältnisse oder seine Lage zu den umgebenden Körpern, die mit ihm zugleich wahrgenommen werden und ebenfalls einen bestimmten Raum einnehmen: er verändert seine Verhältnisse zu diesem bestimmten, mit anderen Körpern erfüllten Raum. Der bestimmte, körperliche und wahrnehmbare Raum heißt

1 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Hauptst. I. Metaphysische Anfangsgründe der Phoronomie. Erklärung 2. Anmerkung 2 und 3. (Bb. VIII. S. 459–461.)

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