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nicht aus dem kritischen Gesichtspunkt erleuchtet und nicht mit fiegreicher Klarheit dargethan hätte, daß und warum wir nicht nöthig haben, auf die Wirklichkeit äußerer Gegenstände zu schließen, giebt Kant in der zweiten Ausgabe der Kritik eine Widerlegung des Idealismus, worin das Dasein der Dinge außer uns syllogistisch bewiesen wird. Der Syllogismus lautet in kürzester Fassung: unsere innere Erfahrung ist abhängig von der äußeren, diese von dem Dasein der Dinge außer uns, also sind die letzteren unabhängig von unserer inneren Erfahrung und nicht bloße Vorstellungen.

4. Einwürfe und deren Prüfung.

Emil Arnoldt ist ein so gründlicher, durch eine Reihe lehrreicher Forschungen bewährter Kenner des Lebens wie der Lehre unseres Philo= sophen, daß seine Untersuchungen die aufmerksamste Beachtung ver= dienen. In seiner eingehenden Beurtheilung meines Werks hat derselbe auch diejenigen Punkte hervorgehoben, in welchen er meine Auffassungen nicht theilt: darunter betrifft der wichtigste den dargelegten Widerstreit in der kantischen Erkenntnißlehre. In der Ansicht von dem Charakter und der fundamentalen Bedeutung des transscendentalen Idealismus sind wir einverstanden, auch ist Arnoldt „nicht gewillt, die philosophische Differenz der beiden Ausgaben der Vernunftkritik wegzureden", er räumt ein, daß die zweite einer falschen Auffassung jener kantischen Lehre Vorschub leisten könne und wohl auch thatsächlich geleistet habe, daß die erste Ausgabe wegen der energischen und unzweideutigen Art, womit sie die Idealität der Körperwelt lehre, der zweiten vorzuziehen sei.1 Dagegen bestreitet Arnoldt, daß die Differenz der beiden Ausgaben die Grundlagen der kantischen Erkenntnißlehre betreffe, und daß insbe= sondere jene Widerlegung des Idealismus“, die der Philosoph in der zweiten Ausgabe ausgeführt hat, dem transscendentalen Idealismus zuwiderlaufe. Vielmehr habe Kant an dieser Stelle zur Widerlegung Descartes' nur beweisen wollen, daß unsere innere Erfahrung von der äußeren abhänge und durch die lettere vermittelt sei; dieser Beweis sei ihm gelungen und bilde das eigenthümliche Verdienst, das seiner neuen Widerlegung des Idealismus“ zukomme.2

Ich muß den scharfsinnigen Erörterungen E. Arnoldts folgende Gründe entgegenstellen: 1. Der transscendentale Idealismus lehrt die

1 E. Arnoldt: Kant nach Kuno Fischers neuer Darstellung. Ein kritischer Bericht. (Königsberg 1882.) S. 31 u. 32, S. 41 u. 42. 2 Ebendas. S. 32-42,

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volle und gleiche Unmittelbarkeit der inneren und äußeren Erfahrung. Es heißt dieser Lehre widersprechen, wenn die äußere Erfahrung als das Mittel und die Bedingung der inneren gelten soll; sie kann eine solche Be= dingung nicht sein, da sie selbst auch innere Erfahrung ist, sie ist ein Theil oder eine besondere und nothwendige Sphäre der letteren. 2. Daß unsere innere Erfahrung von der äußeren abhänge und durch dieselbe vermittelt werde, ist in Kants neuer „Widerlegung des Idealismus“ nicht das Ziel, sondern bloß eine Station der Beweisführung. Das Ziel ist die Abhängigkeit der äußeren Erfahrung von dem Dasein der Dinge außer uns, d. h. die Unabhängigkeit der äußeren Dinge von unserer Vorstellung. Dann gelten die Dinge außer uns für Dinge an sich, dann werden die Erscheinungen und die Dinge an sich vermengt, was dem transscendentalen Idealismus und der gesammten Erkenntnißlehre Kants auf das Aeußerste widerstreitet. Dies ist der Punkt, um den es fich handelt. Ich behaupte daher, daß der transscendentale Idealismus in der ersten wie in der zweiten Ausgabe der Kritik, verglichen mit der neuen Widerlegung des Idealismus“ und mit der Anmerkung in der Vorrede der zweiten Ausgabe, sich zu diesen lezteren Ausführungen verhalte, wie A zu Nicht-A. Um mich zu widerlegen, muß man dem= nach beweisen: daß Kant die Unabhängigkeit der äußeren Dinge (Körper) von unseren Vorstellungen in der ersten Ausgabe der Kritik nicht durchgängig verneint und an den angeführten Stellen der zweiten keineswegs bejaht und zu beweisen gesucht habe.

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E. Arnoldt verneint den Widerstreit der beiden Ausgaben und sucht ihre Verschiedenheit graduell zu fassen. „Die erste beweist mit größerem Nachdruck, daß die Körper, mit geringerem, daß die Seelen Erscheinungen sind; sie nähert sich dem Spiritualismus. Die zweite beweist mit größerem Nachdruck, daß die Seelen, mit geringerem, daß die Körper Erscheinungen sind; sie vertheidigt dem Spiritualismus gegenüber, den sie beseitigt, die relative Berechtigung des Materialismus, den sie nicht minder beseitigt." Wenn man nur wüßte, wie weit in beiden Fällen der größere" wie der geringere Nachdruck“ reichen soll, da doch Kant in der ersten Ausgabe mit allem Nachdruck die Körper für bloße Erscheinungen erklärt und in beiden Ausgaben mit allem Nachdruck verneint hat, daß die Seelen Erscheinungen oder erkennbare Objecte sind!1

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1 E. Arnoldt: Kant nach Kuno Fischers neuer Darstellung. Ein kritischer Bericht. S. 32.

In einem vortrefflichen, mit genauer Sachkenntniß und eindringendem Urtheil geschriebenen Auffah über meine Geschichte der Philosophie und insbesondere mein Werk über Kant hat Joh. Witte auch die kritische Frage berührt, welche uns soeben beschäftigt. Er ist darin meiner Ansicht, daß die veränderte Darstellung der zweiten Ausgabe nicht für eine verbesserte zu halten sei", aber er verneint, daß sie den Grundlehren der ersten widerstreite, und möchte die Differenz beider darauf einschränken, daß „die zweite den idealistischen Charakter der ersten in undeutlicher Weise abschwäche". Ich muß ihm entgegnen, daß dieser Ausdruck zu unbestimmt und seine nähere Auslegung nicht richtig ist. Was Kant in den angeführten Stellen nach Tendenz und Wortlaut zu beweisen sucht, ist nicht, wie Witte meint, die Unabhängigkeit der äußeren Dinge von der bloß subjectiven oder individuellen Vorstellung, sondern von der Vorstellung als solcher.

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Darüber läßt jene der Vorrede zur zweiten Ausgabe eingefügte Anmerkung, die nach der Absicht des Philosophen der im Tert befind= lichen Widerlegung des Idealismus“ secundiren soll, nicht den mindesten Zweifel. Auch nicht die „Widerlegung“ selbst, nach welcher „die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch ein Ding außer mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dinges außer mir möglich ist“. Nun interpretirt Witte: „Die Wahrnehmung dieses Beharrlichen (d. i. meines Daseins in der Zeit)" u. s. w. Diese Auslegung scheint mir aus zwei Gründen unmöglich: 1. weil mein Dasein in der Zeit" nicht beharrlich ist, und 2. weil nach Kants ausdrücklicher Lehre unter allen erkennbaren Dingen kein anderes Da= sein beharrt als die Materie. Wenn Kant nach Wittes Ansicht unter Ding" stets einen vorgestellten Gegenstand" oder die Vorstellung eines Dinges versteht, so sagt er uns in der obigen Stelle: „Die Wahrnehmung dieses Beharrlichen ist nur durch ein Ding (d. H. durch die Vorstellung eines Dinges) außer mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dinges außer mir möglich!" Man sieht, daß keinerlei Auslegungskunst den Widerspruch wegreden kann, den ich fest= gestellt und in seiner Entstehung erklärt habe. Und ich dürfte wohl gegen die Meinung geschüßt sein, die ein so einfichtsvoller und gerechter Beurtheiler, wie Witte, nicht hegen sollte, als ob irgend welche Voreingenommenheit für die Lehre eines anderen Philosophen, wie etwa Hegels, auf meine Würdigung Kants den mindesten Einfluß geübt habe.1

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Joh. Witte: kuno Fischers Behandlung der Geschichte der Philosophie

Jeder Kenner der Vernunftkritik weiß, daß und warum Kant die Standpunkte des transscendentalen Idealismus und empirischen Realismus einerseits und die Standpunkte des transscendentalen Realismus und empirischen Idealismus andererseits als nothwendig zusammengehörige betrachtet, daß er die beiden ersten in seiner Lehre vereinigt, die beiden anderen dagegen, als welche dem Dogmatismus angehören, widerlegt haben will. Der transscendentale Idealismus lehrt die Entstehung unserer gemeinsamen Erscheinungswelt; der empirische Realismus lehrt, daß es deshalb keine anderen Erkenntnißobjecte giebt als die Erscheinungen oder finnlichen Dinge: daher gehören die beiden Standpunkte nothwendig zusammen, und ihre Namen bezeichnen nur verschiedene Seiten derselben Vorstellungsart.

Ebenso verhält es sich mit den beiden anderen. Der transscen= dentale Realismus lehrt, daß die Dinge außer uns unabhängig von unseren Vorstellungen oder Dinge an sich sind; der empirische Idealismus lehrt, daß wir eben deshalb die Dinge außer uns nicht unmittel bar, sondern nur mittelbar, d. H. durch Schlußfolgerungen, vorstellen, daher ihres Daseins weniger gewiß sein können, als unseres eigenen Denkens, oder, was dasselbe heißt, daß die Existenz unseres denkenden Wesens (Seele) allein gewiß, dagegen das Dasein der Dinge außer uns ungewiß oder zweifelhaft ist. Wer die äußeren Dinge für Dinge an sich hält, muß ihr Dasein für zweifelhaft halten, da er desselben nicht unmittelbar gewiß sein kann. Anders ausgedrückt: wer transscendentaler Realist" ist, muß zugleich „empirischer Idealist“ sein. Diese beiden Standpunkte streiten nicht mit einander, sondern sind identisch, und ihre Namen bezeichnen nur verschiedene Seiten derselben Vorstellungsart.

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Wenn es sich mit dem Dasein der Dinge außer uns so verhält, wie der transscendentale Realist behauptet, dann muß es sich mit unserer Vorstellung dieser Dinge und mit der Gewißheit ihres Da= seins so verhalten, wie der empirische Idealist lehrt: diese beiden Standpunkte bedürfen keiner Versöhnung, weil sie nicht mit einander streiten, sondern nothwendig zusammengehören und den Charakter jenes dog= matischen Rationalismus ausmachen, welchen Descartes begründet und Kant durch den kritischen widerlegt hat. So steht die Sache. Wenn und sein Verhältniß zur Kantphilologie. Altpr. Monatsschr. Bd. XX. S. 129 bis 151, insbes. S. 145-148.

1 Vgl. dieses Werk. Bd. IV. Buch II. Cap. X. S. 493–498.

nun jemand, wie A. Krause, behauptet, daß „Kant seine ganze gewaltige Kraft daran gesezt habe, den Streit zwischen empirischem Idealismus und transscendentalem Realismus zu schlichten“, so ist kaum möglich, in wenigen Worten mehr Unsinn zu sagen. Kant soll den Streit zweier Standpunkte geschlichtet haben, die nach seiner Einsicht und Lehre völlig harmoniren: er soll Standpunkte versöhnt haben, welche er widerlegt hat, und er soll endlich, um einen Streit zu schlichten, der nach ihm keiner ist, seine gewaltige Kraft daran gesezt haben, und noch dazu die ganze!1 Ich komme auf das Ergebniß meiner Prüfung der kantischen Erkenntnißlehre zurück und muß dasselbe für unwiderlegt halten. Nach der Grundlehre Kants sind die Dinge an sich von den Erscheinungen, also auch von den Dingen außer uns auf das Genaueste zu unterscheiden und jede Vermengung beider auf das Sorgfältigste zu verhüten. Dagegen hat Kant im Tert und in der Vorrede der zweiten Ausgabe der Vernunftkritik eine solche Widerlegung des Idealismus gegeben, daß die Dinge außer uns als unabhängig von der Vorstellung, mithin als Dinge an sich gelten, also die lehteren mit den Erscheinungen vermengt werden.

Es entspricht der kantischen Lehre vollkommen und ist durch den Geist wie durch den Wortlaut derselben geboten: daß wir den Dingen an sich Realität und Ursächlichkeit zuschreiben. Dagegen widerstreitet es dieser Lehre ebenso sehr, den Dingen an sich theoretische Erkennbarkeit (empirische Realität) und äußere Causalität beizulegen. Sie find die Ursachen unserer sinnlichen Eindrücke oder unseres empirischen Er= kenntnißstoffs, aber nicht äußere Ursachen, denn diese sind äußere Dinge oder Erscheinungen, die aus den Empfindungen entstehen, also dieselben unmöglich erzeugen. Es ist daher eine grundfalsche und verkehrte Auffassung der kantischen Fundamentallehre, wenn man nach ihr die Dinge an sich für die äußeren Ursachen unserer Sinnesempfindungen hält. Eine solche Auffassung ist durch den transscendentalen Idealismus ab= solut verneint, aber durch die spätere „Widerlegung des Idealismus“ nicht gehindert, ja so weit ermöglicht worden, daß sie bei den Kantianern gewöhnlichen Schlages die landläufige wurde.

Diese Ansicht ist es, welche Fichte in seiner Bestreitung der Kantianer und später Schopenhauer in seiner Kritik der kantischen Philosophie als widerkantisch und widerfinnig nicht stark genug verwerfen konnten.

1 Die Grenzboten. (1882.) Nr. 40. S. 16.

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