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Erftes Buch.

Metaphyfik der Natur und der

Sitten.

Fischer, Gesch. d. Philos. V. 4. Aufl. N. A.

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Erstes Capitel.

Aufgabe der metaphysischen Naturlehre. Die Körperwelt. Begriff der Bewegung. Größe der Bewegung. Phoronomie.

I. Die reine Naturwissenschaft.

1. Mathematische und philosophische Naturlehre.

Die Kritik der reinen Vernunft hat den sicheren Grund gelegt, worauf jezt das Erkenntnißsystem der reinen Vernunft errichtet werden soll; sie hat in der Vernunft die Quellen einer doppelten Gesetzgebung entdeckt: die Principien des vernunftgemäßen Erkennens und Handelns: jene bestimmen den Verstand in seinen Urtheilen, diese den Willen in seinen Handlungen; die ersten können theoretische, die anderen praktische Principien genannt werden.

Zugleich hat die Kritik bewiesen, daß sich das rechtmäßige Ver= standesgebiet auf die Welt der finnlichen Erscheinungen einschränkt, daß es keine andere wissenschaftliche Erkenntniß der Dinge giebt, als Mathematik und Erfahrung. Die Objecte der Mathematik sind uns nicht durch die Sinne gegeben, sondern durch Construction gemacht oder durch sebst= thätige Anschauung gebildet. So weit uns also die Dinge von außen gegeben sind, ist keine andere Erkenntniß derselben möglich als die Erfahrung. Nennen wir den Inbegriff der finnlichen Erfahrungsobjecte Natur, so beschränkt sich unsere Erkenntniß der Dinge auf die Naturwissenschaft, deren Principien entweder durch die Erfahrung oder vor derselben gegeben sind: im ersten Falle sind sie impirisch, im anderen transscendental. Die letteren sind reine oder rationale Grundsäße. Dem= gemäß unterscheidet sich die reine Naturwissenschaft von der empirischen und umfaßt alle diejenigen Erkenntnisse, welche in Ansehung der natür= lichen Objecte durch bloße Vernunft ausgemacht werden.

Hier ist die Rede nur von der reinen oder rationalen Naturwissenschaft. Was kann durch bloße Vernunft von den sinnlichen Er=

scheinungen erkannt werden? Die sinnlichen Gegenstände sind in unserer Anschauung gegeben. Wenn sie bloß durch Anschauung gegeben sind, d. H. wenn in der Erscheinung nichts enthalten ist, was die Anschauung nicht gegeben oder gemacht hat, wenn mit anderen Worten die Erschein= ungen ohne Rest Producte der Anschauung sind, so sind sie vollkommen durch bloße Vernunft erkennbar. Es giebt in solchen Erscheinungen nichts, das nicht die reine Vernunft ganz zu durchdringen vermöchte. Alle Erscheinungen sind ihrer Form nach Producte der Anschauung, denn alle sind in Raum und Zeit. Die mathematischen Größen sind auch ihrem Inhalte nach Producte der Anschauung, denn der Inhalt der Größen ist selbst nur räumlich und zeitlich. Nicht bloß die Er= kenntnißweise, auch die Objecte der Mathematik find a priori: sie ist die einzige durchgängig reine oder rationale Wissenschaft. Hier ist darum alles vollkommen klar und durchsichtig. Wenn wir daher die Wissen= schaft einschränken auf diejenigen Erkenntnisse, welche vollkommen rein oder a priori sind, so müssen wir behaupten, daß die Naturwissenschaft nur so weit rein ist, als sie mit der Mathematik zusammenfällt, oder, wie sich Kant ausdrückt, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viele eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist".1

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Nun aber sind die Naturerscheinungen nicht bloß mathematische Größen. Es ist etwas in ihnen enthalten, das sich niemals construiren läßt, nämlich ihre Materie im Unterschiede von der Form: ihr Dasein selbst, das zwar in unserer Anschauung gegeben, aber nicht durch dieselbe gemacht ist. Vermöge ihres Daseins, ihrer von außen gegebenen Existenz, sind die Naturerscheinungen nicht bloß Figuren, sondern Dinge. Den Begriff von einem Dasein können wir nicht construiren, sondern nur denken oder durch Erfahrung erkennen. Aus diesem Grunde ist die reine Naturwissenschaft nicht bloß Mathematik. Es ist etwas in der Naturerscheinung, das in die Construction nicht aufgeht, das nicht durch Anschauung, sondern durch Begriffe erkannt sein will. Entweder also giebt es überhaupt keine reine Naturwissenschaft, oder diese will nicht bloß durch Anschauung, sondern durch Begriffe gebildet sein. Die Erkenntniß durch Begriffe ist die philosophische im Unterschied von der mathematischen, sie ist näher bestimmt die metaphysische. Reine Natur

1 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Vorr. (Bd. VIII. S. 444.)

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