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heit, daß man die Ungerechtigkeit nicht offen zur Schau trage, daß man sie bemäntele und wo möglich den Schein der Gerechtigkeit selbst annehmen lasse. Je geschickter man die Ungerechtigkeit unter dem Scheine des Gegentheils ausübt, um so besser und kunstfertiger ist die Politik. Politische Geltung und Macht ist die Hauptsache, der alles Andere dient. Das Erste sei, daß man seinen Zweck erreiche; ist das Spiel gewonnen, so beschönige man die That und stelle die ungerechte Handlungsweise als gerecht und nothwendig dar; läßt sich die verabscheuenswerthe That nicht entschuldigen oder rechtfertigen, so leugne man, der Thäter zu sein, und stelle sich als unschuldig dar, andere als die allein Schuldigen. Es wird freilich bei einer solchen rechtsverlegenden Politik nicht fehlen, daß man sich Feinde macht. Der ungerechte Gewalthaber erregt gegen sich im Innern des Staats Parteien; der die Rechte anderer Völker verlegende Staat schafft sich eben dadurch feindselig gesinnte Staaten. Wenn diese Parteien und Staaten sich wider die gewaltthätige, ungerechte Macht vereinigen, so können sie leicht furchtbar werden: daher wird es eine Hauptaufgabe der Staatsflugheit sein, die Gegner unter sich zu entzweien, um sie gleichmäßig zu beherrschen. Jede glücklich gelöste Aufgabe solcher Staatsklugheit ist ein politisches Kunststück, in schwierigen Fällen ein Meisterstück politischer Kunst, welches die politischen Moralisten bewundern. Die Hauptregeln der staatsflugen Moral lassen sich in diesen drei Formeln kurz zusammenfassen: fac et excusa, si fecisti nega, divide et impera!1

3. Die Staatsweisheit der moralischen Politik.

Dagegen die moralische Politik verbannt nicht etwa die Staatsflugheit, sondern bedingt sie nur durch die Gerechtigkeit; ihr Ziel ist die Verbindung der Gewalt mit dem Rechte: sie ist „Staatsweisheit“, die sich von der Staatsflugheit nicht dadurch unterscheidet, daß sie un= geschickter ist in der Wahl ihrer Mittel, sondern daß sie in dieser Wahl kritisch verfährt, weil sie ihren Zweck unter sittlichem Gesichtspunkte auffaßt. Hier besteht Einhelligkeit zwischen Moral und Politik. Es giebt ein Kennzeichen, ob ein politischer Zweck mit der Moral übereinstimmt oder nicht: wenn er die öffentliche Gerechtigkeit nicht verlegt, so hat er auch die Moral nicht gegen sich; was die öffentliche Gerechtigkeit nicht verlegt, das braucht nicht geheim gehalten zu werden, das darf man vor aller Welt aussprechen: die Publicität bildet das

1 Zum ewigen Frieden. Anhang I. (Bd. V. S. 446–459 u. S. 451 u. 452.)

Kennzeichen der Uebereinstimmung zwischen Politik und Moral. Was die öffentliche Gerechtigkeit (nicht bloß nicht verlegt, sondern) befördert, das muß öffentlich gesagt werden, das ist der Publicität nicht bloß fähig, sondern bedürftig. Hier fällt die politische Forderung mit der moralischen selbst zusammen.

Dieses Kennzeichen der Publicität besteht die Probe. Die Ge= heimnisse der politischen Moral sind zwar aller Welt bekannt und nicht schwer zu begreifen, aber der Politiker, welcher im Sinne jener staatsklugen Regeln handelt, wird sich wohl hüten, es öffentlich zu sagen; im Gegentheil, er wird alles thun, um den entgegengesetzten Schein öffentlich zu erzeugen, und seine wahre Denkweise sorgfältig geheim halten; der Despotismus bedarf der Verschwiegenheit; der beste Beweis, daß ihm die Gerechtigkeit fremd ist. Ebenso wird sich das vermeintliche Recht zur Revolution nie öffentlich aussprechen, es wird die Publicität sorgfältig vermeiden und eben dadurch zeigen, wie wenig es sich mit der öffentlichen Gerechtigkeit verträgt. Wenn die Staatsflugheit wider alle Ehrlichkeit dazu antreibt, geschlossene Verträge zu brechen, so wird man doch nie diesen Sah öffentlich aussprechen wollen, weil man allen öffentlichen Credit einbüßen würde, den auch die Interessen= politik braucht.

Sehen wir den Fall, ein größerer Staat fände es im Interesse seiner Macht, sich auf Kosten kleinerer Staaten zu vergrößern und diese kleineren Staaten bei guter Gelegenheit zu verschlingen, so würde er sehr zweckwidrig handeln, wenn er seine Absicht vor der That ausspräche: sie ist ungerecht und verträgt darum keine Publicität. Nehmen wir im entgegengesetzten Fall eine Absicht, welche die öffentliche Gerechtigkeit befördert, wie z. B. die Idee einer Völkerföderation zum Zwecke des ewigen Friedens, so wissen wir schon, daß eine solche Forderung die Publicität bedarf, daß die öffentliche Gedankenfreiheit zu ihren Bedingungen gehört, daß die öffentliche Einsicht in die Nothwendigkeit dieser Idee selbst ein Mittel zu ihrer Verwirklichung bildet. Gilt also die Publicität als ein beweisendes Kennzeichen für oder gegen den moralischen Werth politischer Forderungen, so ist die Einhelligkeit zwischen Moral und Politik in den kantischen Rechtsideen, insbesondere für die Theorie vom ewigen Frieden, gesichert.1

13 um ewigen Frieden. Anhang II. (Bd. V. S. 459–466.)

Sechszehntes Capitel.

Die Naturgeschichte der Menschheit. Die Verschiedenheit der Racen.

I. Die Naturgeschichte der Menschheit.

Die Einwürfe wider die praktische Geltung der sittlichen Vernunftzwecke sind ungültig, diese sollen und können verwirklicht werden, und ihre Ausführung, die sich dem Ziele beständig annähert, besteht in der fortschreitenden Entwicklung der moralischen Anlagen, welche die menschliche Natur in sich trägt. Diese Entwicklung nennt man die Weltgeschichte in engerem Sinn: sie ist der Inbegriff derjenigen Lebensformen, welche die Menschheit im Wege der Cultur aus sich selbst er= zeugt. Aber die Culturgeschichte sezt die natürliche Bildungsgeschichte der Menschheit voraus, und die gesammte Entwicklung unseres Geschlechts muß daher in die beiden Gebiete der Natur- und Freiheitsgeschichte unterschieden werden. Der gegenwärtige Naturzustand der Menschheit in der Mannichfaltigkeit ihrer Unterschiede ist, wie der gegenwärtige Zustand der Erde und des Kosmos, aus einer Reihe natürlicher Bedingungen und Veränderungen allmählich hervorgegangen, und wie die Freiheitsgeschichte in der Entwicklung der moralischen, so besteht die Naturgeschichte der Menschheit in der Entwicklung ihrer natürlichen Anlagen.

Die Entstehung und Naturgeschichte der Menschheit setzt die der Erde und des Weltalls voraus; es lag, wie wir wissen, in dem Plane namentlich der vorkritischen Untersuchungen unseres Philosophen, diese großen Themata zu behandeln, deren erstes er in der „Naturgeschichte des Himmels" ausgeführt hat. Daran knüpften sich einige Aufsäge, welche als Beiträge zur Naturgeschichte der Erde gelten können, und seine fortgesetten Vorträge über „physische Geographie", die ein Stück der Erdgeschichte in sich aufnahmen, denn diese ist nichts anderes als „con= tinuirliche Geographie". Kant wollte sich nicht bloß mit der Beschreibung der Dinge begnügen, sondern ihre Entstehung erklären, denn es ist wahre Philosophie, die Verschiedenheit und Mannichfaltigkeit einer Sache durch alle Zeiten zu verfolgen". In diesem Sinne forderte Kant die Naturgeschichte nicht bloß des Himmels und der Erde, sondern auch der Pflanzen, Thiere und Menschen.1

1 Vgl. dieses Werk. Bd. IV. Buch I. Cap. XI. (S. 183.)

Sein erstes Problem betraf den Kosmos. Wie ist der gegen= wärtige Zustand des Weltalls, insbesondere die Einrichtung unserez Planetensystems, welche Kopernikus, Galilei, Kepler und Newton erklärt haben, entstanden? Er gab die uns bekannte Theorie einer rein mechanischen Evolution des Weltalls. Doch setzte er dieser Erklärungsart sogleich eine bedeutsame Grenze im Hinblick auf die lebendigen Naturkörper; es schien ihm schon damals unmöglich, die Entstehung solcher Körper rein mechanisch, d. h. ohne Hülfe der Zweckursachen oder ohne den Gebrauch teleologischer Principien zu erklären.1 Nur in den lebendigen Körpern giebt es entwicklungsfähige Keime oder Anlagen, die entfaltet sein wollen, und da der Begriff der Entwicklung mit dem der Anlage auf das Genaueste zusammenhängt, so kann nur auf dem Gebiete der organischen Natur von einer Entwicklung oder Naturgeschichte im engeren und eigentlichen Sinn die Rede sein. Wo aber Anlagen die treibenden Kräfte bilden, da sind Zwecke oder Naturabsichten vorhanden, auf welche die Organisation gestellt ist und die Entwicklung abzielt. Wir sehen daher voraus, daß die Naturgeschichte der Menschheit und ihre Erzeugungen, da sie nicht rein mechanisch zu erklären sind, den Philosophen nöthigen werden, Zweckursachen in seine Betrachtung einzuführen und teleologische Principien zu brauchen. Auch bei Gelegenheit der moralischen Weltzwecke hatte sich Kant wiederholt auf die menschlichen Naturzwecke berufen, die uns unwillkürlich dem Ziele zutreiben, welches die sittliche Vernunft stellt und gebietet. Um die reale Geltung der menschlichen Vernunftund Freiheitszwecke zu verificiren, hatte Kant seine Lehre durch die zwingende Gewalt der menschlichen Naturzwecke in ihrer unleugbaren, erfahrungsmäßigen Geltung bestätigt.

II. Die Gattung und Racen der Menschheit.

1. Die kantischen Abhandlungen.

Das einzige Thema, welches Kant aus der Naturgeschichte der Menschheit ergriffen und in zwei Aufsätzen zum Gegenstande seiner Untersuchung gemacht hat, betrifft die Racendifferenz. Beide Schriften, die um ein Jahrzehnt von einander abstehen und mit den vorkritischen Untersuchungen genau zusammenhängen, fallen in die kritische Periode, die mit der Inauguraldissertation (1770) beginnt: die erste, welche die

1 Vgl. dieses Werk. Bd. IV. Buch I. Cap. X. S. 167 u. 168.

einzige ist, die Kant in dem Zeitraum von 1770-1781 herausgab, erscheint vor der Kritik der reinen Vernunft, die andere nach den Prolegomena, sie ist gleichzeitig mit der Grundlegung der Metaphysik der Sitten und fällt in die Jahre der geschichtsphilosophischen Abhandlungen; das Thema der ersten handelt „Von den verschiedenen Racen der Menschen" (1775), das der zweiten ist die „Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace" (1785). Da Georg Forster, der berühmte Reisende und Naturforscher, die naturwissenschaftliche Geltung der in dem zweiten Aufsatz enthaltenen teleologischen Erklärungsgründe im deutschen Merkur (1786) bestritten hatte, so schrieb Kant zu seiner Rechtfertigung den wichtigen Aufsay: „Ueber den Gebrauch teleo= logischer Principien in der Philosophie“ (1788), wo er zum dritten male die Untersuchung der Racenunterschiede aufnahm.1

Die beiden populärsten Vorlesungen Kants waren bekanntlich die über physische Geographie und Anthropologie. Da nun die Racenfrage in die Naturgeschichte der Menschheit, also in die naturwissenschaftliche Anthropologie gehört, so kann es befremdlich erscheinen, warum der Philosoph den ersten jener Aufsäge zur Ankündigung seiner Vorlesungen über physische Geographie verfaßt hat. Dies erklärt sich aus der Art seiner, noch von ihm selbst herausgegebenen anthropologischen Vorträge, die nicht naturwissenschaftlich oder theoretisch, sondern „pragmatisch“ waren und sein wollten, sie handelten vom Menschen, nicht als Geschöpf der Erde und animalischem Wesen, sondern als Weltbürger". „Die physiologische Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als frei handelndes Wesen, aus sich selber macht oder machen kann und soll", daher die kantische Anthropologie als ein Beitrag weniger zur Naturgeschichte, als zur Freiheitsgeschichte des Menschen gelten muß.2

Indessen giebt es in der rein naturgeschichtlichen Behandlung der Racenfrage einen Punkt, welcher mit der Ansicht von der Einheit der

1 Von den verschiedenen Racen der Menschen zur Ankündigung der Vorlesungen über physische Geographie im Sommerhalbjahr 1775. Dieser Aufsat wurde umgearbeitet und wieder veröffentlicht in Engels Philosoph für die Welt. (S. W. Bd. X. S. 23—44.) Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace. (Berl. Monatsschrift. November 1785. S. W. Bd. X. S. 45-64.) Ueber den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie. (Deutscher Merkur. Jena 1788. S. W. Bd. X. S. 65-98.) Vgl. dieses Werk. Bd. IV. Buch I. Cap. VII. S. 125.2 Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. (1798.) Vorrede. (Bd. X. S. 115 flgd.)

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