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dürfnisse genug zu thun und die Geschlechtsbefriedigung zu genießen, so wird die eine Person von der anderen gebraucht, mithin als Sache behandelt und dadurch erniedrigt; eine Person, welche der anderen zum willenlosen Werkzeuge des Genusses dient, befindet sich im niedrigsten Stande eines rechts- und ehrlosen Daseins. Die natürliche Geschlechtsgemeinschaft ist rechtswidrig, wenn sie in der Form des einseitigen Be= sizes besteht; in dieser Form kommt sie der Leibeigenschaft gleich. Die erste Bedingung ist, daß sich die Personen, welche eine solche Gemeinschaft eingehen, gegenseitig besigen. Aber wenn sie einander besigen, nur um sich gegenseitig zu brauchen und zu genießen, so ist jede der beiden Personen nichts als das Werkzeug der anderen; es wird in einer solchen Gemeinschaft auf beiden Seiten etwas veräußert und als Sache be= handelt, das als Organ zur Integrität der Person gehört, und damit auf beiden Seiten die persönliche Freiheit und Würde aufgehoben.

Daher die Frage der rationalen Rechtslehre: unter welchen Bedingungen wird die natürliche Geschlechtsgemeinschaft, deren Nothwendigkeit ein= leuchtet, ein der menschlichen Vernunft und Freiheit angemessenes Verhältniß? Mit anderen Worten: in welcher Form entspricht die Ge= schlechtsgemeinschaft den obersten Rechtsbedingungen? In welcher Form wird dieses natürliche Verhältniß ein rechtmäßiges? Der wechselseitige Besiz nimmt dem Verhältnisse die sclavische Form, aber giebt ihm noch nicht die rechtmäßige. Wenn die Personen bloß nach ihrer Ge= schlechtseigenschaft das gegenseitige Verhältniß eingehen und nur das physische Bedürfniß ihre Zusammengehörigkeit ausmacht, so hat dieses Verhältniß keine der persönlichen Freiheit angemessene Form. Ein solches Verhältniß betrifft nur einen Theil der Person; mit diesem Theile dient jede der beiden Geschlechtspersonen der anderen als Sache, die gebraucht wird.

Die Person aber ist ein Ganzes, eine untheilbare Einheit: darum können Personen einander nur ganz oder gar nicht be= figen, der theilweise Besih widerstreitet der Untheilbarkeit des persönlichen Daseins und damit der Freiheit und Würde desselben. Wenn aber die Personen vollkommen und ganz in die Geschlechtsgemeinschaft eingehen, sich einander völlig und ungetheilt hingeben, so ist ihr gegen= seitiges Verhältniß nicht bloß geschlechtlich, sondern persönlich: dieses persönliche Verhältniß ist die Form, in welcher die Geschlechtsgemein= schaft der menschlichen Freiheit und Würde entspricht; diese rechtmäßige Form ist die Ehe, und zwar ist sie die einzige Form, in welcher das

Geschlechtsverhältniß den Rechtsbedingungen und damit dem Vernunftgeseze gemäß ist. Es folgt von selbst, daß die Ehe, indem sie die persönliche Freiheit auf beiden Seiten gewährt, auch die Gleichheit auf beiden Seiten fordert, daß die Angehörigkeit keine Ungleichheit erlaubt und darum die Monogamie die allein rechtmäßige Form der Ehe ausmacht.

Die Ehe ist kein einseitiger Besitz: darum kann das Eherecht nicht einseitig durch thatsächliche Ergreifung erworben werden, indem der eine Theil sich des anderen bemächtigt. Die Ehe ist nicht nur eine wechselseitige Leistung: darum kann das Eherecht auch nicht bloß durch Ver= trag erworben werden. Die Ehe ist die rechtmäßige Form der natürlichen Geschlechtsgemeinschaft, sie ist deren einzig rechtmäßige Form. Die natürliche Geschlechtsgemeinschaft ist im Naturgeseze begründet, die rechtmäßige Form im Vernunftgeset: mithin ist es das Gesetz, wo= durch allein die natürliche Geschlechtsgemeinschaft rechtmäßig gemacht oder das Eherecht begründet werden kann. So unterscheidet Kant nach dem Titel ihrer Erwerbung die drei Arten des Privatrechts: das Sachenrecht wird «facto», das persönliche Recht «pacto», das dinglichpersönliche Recht in der Ehe «lege» erworben, d. h. „als rechtliche Folge aus der Verbindlichkeit, in eine Geschlechtsverbindung nicht anders als vermittelst des wechselseitigen Besizes der Personen, als welcher nur durch den gleichfalls wechselseitigen Gebrauch ihrer Ge= schlechtseigenthümlichkeiten seine Wirklichkeit erhält, zu treten".1

Aus der ehelichen Gemeinschaft folgt die häusliche (Familie und Hauswesen): zuerst das Verhältniß der Eltern zu den Kindern, dann weiter das des Hausherrn zur Hausgenossenschaft. Die Kinder sind werdende Personen; die Eltern haben die Rechtspflicht, ihre Kinder zu wirklichen Personen zu erziehen, womit von selbst deren physische Er= haltung und geistige Pflege gefordert wird. Das Hausgesinde sind dienende Personen, der schuldige Dienst ist eine persönliche Leistung, eine vertragsmäßige; die Herrschaft hat auf ihre Dienstboten kein Sachen= recht und darf diese nicht nach Willkür gebrauchen und verbrauchen. 2

Dies ist in seinen Grundzügen der Inhalt des Privatrechts, er ist in der natürlichen Gesellschaft derselbe, als in der bürgerlichen. Der Unterschied liegt in der Geltung des Rechts. In der natürlichen Ge=

1 Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Th. I. Hauptst. II. Abschn. III. § 22-30. (Bd. V. S. 83-86.) 2 Ebendas. § 28-30. (Bb. V. 6. 86-90.)

sellschaft gelten alle Rechte provisorisch, in der bürgerlichen peremtorisch. Und streng genommen ist das Recht erst dann wirklich, wenn es perem= torisch gilt, wenn seine Geltung im Nothfall erzwungen werden kann, wenn eine öffentliche Gerechtigkeit existirt, welche die Rechtsstreitigkeiten nach dem Gesetz entscheidet, jedem das Seine zutheilt, jeden in seinem rechtmäßigen Besize erhält und beschützt. Eine solche Gerechtigkeit ist nur in einem rechtlichen Gemeinwesen oder im Staate möglich. Darum ist das Dasein des Staates eine nothwendige Forderung des Rechts überhaupt. Denn streng genommen giebt es entweder kein Recht, oder alle Rechte haben unverlegbare (peremtorische) Geltung. Darum ist ein wirkliches Privatrecht nur im Staate möglich.1

Elftes Capitel.

Die rationale Rechtslehre. B. Das Staatsrecht.

I. Das öffentliche Recht.

1. Die öffentlichen Rechtsgebiete.

In der natürlichen Gesellschaft giebt es zwar privatrechtliche Ver= hältnisse, aber keine Rechtssicherheit, weil hier die Bedingungen fehlen, kraft deren die Rechtsstreitigkeiten endgültig entschieden und die Rechtsverhältnisse ausgemacht und erhalten werden können. Ohne eine solche Sicherheit gilt der Rechtszustand nur provisorisch, er ist kraftlos und darum unfertig: die natürliche Gesellschaft befindet sich in einem Zustande, welcher zwar nicht als Ungerechtigkeit, wohl aber als Rechtlosig= feit (status justitia vacuus) zu bezeichnen ist. Um das Recht zu sichern und ihm diejenige unbedingte Geltung zu verschaffen, wodurch es eigentlich erst hergestellt wird, ist ein Wille nöthig, welcher die Einzelnen vereinigt, den natürlichen Zustand der Menschen in den bürgerlichen und die Menge in einen Staat oder gemeinsamen Rechtszustand ver wandelt. Dieser Wille ist das Gesez, die Geltung des Gesetzes ist das öffentliche Recht oder die Gerechtigkeit, ohne welche es weder Recht noch Freiheit giebt. Daher soll die Gerechtigkeit das gesammte

1 S. oben S. 133. Vgl. Rechtsl. Th. I. Hauptst. III. § 41 u. 42. Uebergang von dem Mein und Dein im Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt. (Bd. V. S. 116-119.)

menschliche Dasein in der Mannichfaltigkeit aller seiner Formen und Gebiete umfassen und geseßlich ordnen. Das nächste Object der öffentlichen Rechtsgestaltung sind die Individuen, die Menge oder das Volk, das weitere die Völker, das weiteste die Menschheit als die Bewohner desselben Weltkörpers: demnach unterscheidet sich das öffentliche Recht in Staatsrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht.1

2. Die Staatsgewalten.

Die Gerechtigkeit besteht in der untrennbaren Vereinigung von Gesez und Macht. Darin stimmt Kant mit Plato überein, daß der Staat die Gerechtigkeit verkörpern, keinem anderen Zwecke dienen, keiner anderen Richtschnur folgen und nie das Wohl oder die Glückseligkeit seiner Glieder auf Kosten der Gerechtigkeit befördern soll. Wo diese zu gelten aufhört, verliert das Leben allen Werth und sinkt herab unter den Stand des menschenwürdigen Daseins. Der gerechte Staat ist der= jenige, in welchem allein das Geseß herrscht. In der unbedingten Geltung des letzteren besteht das Recht des Staates. Dieses äußert sich in der Gewalt, welche die Geseze giebt, die gegebenen ausführt und nach den= selben die Rechtsstreitigkeiten entscheidet oder rechtspricht. Daher fordert und vereinigt jeder Staat diese drei Gewalten: die geseßgebende, vollziehende (regierende) und rechtsprechende (richterliche). Nur das Gesetz herrscht. Darum ist die gesetzgebende Gewalt die erste und oberste: fie ist die Herrschergewalt oder Souveränetät“. Die politische Trias der Staatsgewalt vergleicht Kant mit einem praktischen Vernunftschlusse, welcher sich in Obersah, Untersaß und Schlußsay gliedert: den Obersatz in der Staatsvernunft bildet das Gesez, den Untersaß das Gebot, wodurch das gesetzmäßige Verfahren bestimmt und die einzelnen Fälle dem Gesez subsumirt werden, den Schlußsaß die Sentenz oder der Rechtsspruch.2

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In der Geltung der Geseze besteht das öffentliche Recht: darum muß die gesetzgebende Gewalt so verfaßt sein, daß sie niemals Unrecht thun kann. «Volenti non fit injuria.» Du hast es selbst gewollt, also geschieht dir kein Unrecht!" Die Geseze müssen daher, um kein Unrecht thun zu können, von allen gewollt sein oder, was dasselbe heißt: die gesetzgeberische Gewalt kann nur in dem allgemein vereinigten Volks= willen bestehen. Geseze, welche der Ausdruck eines solchen Willens find,

1 Metaph. Anfangsgr. der Rechtsl. Th. II. Das öffentliche Recht. § 43 u. 44. 2 Ebendas. § 45. (S. 146.)

(Bb. V. S. 143-145.)

können im menschlichen Sinne irren, nicht im politischen; sie können unrichtig oder unzweckmäßig sein, aber nicht Unrecht thun, weil niemand vorhanden ist, dem das Unrecht geschehen könnte. Daher wird der Staat, um die Forderung der Gerechtigkeit zu erfüllen, so verfaßt sein müssen, daß in seiner gesetzgeberischen Gewalt der Wille aller vereinigt oder repräsentirt ist. Die Glieder einer solchen zur öffentlichen Gesetzgebung vereinigten Gesellschaft heißen Staatsbürger, und die drei noth= wendigen Attribute derselben sind die gesetzliche Freiheit, die bürgerliche Gleichheit und Selbständigkeit. Daß sie keinen anderen Gesezen als den selbstgegebenen gehorchen, macht den Charakter ihrer politischen Autonomie oder Freiheit. Daß alle denselben Gefeßen unterworfen find, macht den Charakter der bürgerlichen Gleichheit, innerhalb deren es kein solches Verhältniß der Ueberordnung giebt, welches die wechselseitige Rechtsverbindlichkeit aufhebt und auf der einen Seite Rechte ohne Pflichten, auf der anderen Pflichten ohne Rechte gelten läßt. Daß endlich keiner einem anderen dergestalt unterworfen ist, daß sein bürgerliches Dasein von fremder Willkür abhängt: darin besteht der Charakter der bürgerlichen Selbständigkeit.1

Das Recht der öffentlichen oder legislatorischen Stimmgebung macht den activen Staatsbürger. Wer dieses Recht nicht hat, ist passiver, nicht Glied, sondern nur Theil des öffentlichen Gemeinwesens, nicht eigentlich Staatsbürger, sondern nur Staatsgenosse, und es liegt in der Natur der menschlichen Verhältnisse, daß nicht alle active Staatsbürger sein können, weil durch die Unmündigkeit der Altersstufe bei den noch unreifen Personen, durch den Charakter des Geschlechts und der dadurch bestimmten Lebenssphäre, endlich durch die Abhängigkeit der Arbeit und Stellung, wie bei Gesellen, Dienstboten u. s. w., derjenige Grad bürgerlicher Selbständigkeit ausgeschlossen ist, welcher die noth= wendige Voraussetzung des activen Staatsbürgerrechts enthält. In= dessen darf durch diese bürgerlichen Ungleichheiten nicht die Gleichheit der Menschenwürde beeinträchtigt und darum auch nicht die Möglichkeit ausgeschlossen werden, daß jeder sich aus dem passiven Zustande zu dem activen der politischen Freiheit emporarbeitet. Nur das weibliche Geschlecht als solches bleibt bei unserem Philosophen von dieser Möglichkeit ausgenommen.2

1 Metaph. Anfangsgr. der Rechtsl. § 46. (S. 146 u. 147.) 2 Ebendas. § 46. Anmfg. (S. 147 flgd.)

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