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„der empirische oder materielle", er begreift die Körper in sich, in Rücksicht auf welche ein anderer Körper seinen Ort verändert; es ist der Raum, zu welchem der bewegte Körper sich verhält, oder mit dem verglichen jener Körper seine Lage und Stellung verändert. Ein solcher Raum bildet in der Relation der Bewegung die eine Seite der Verhältnißbestimmung: deshalb heißt er der relative Raum". Nun sind in der Relation der Bewegung beide Seiten beweglich: darum heißt der relative Raum zugleich der bewegliche". Von dem rela= tiven Raume unterscheidet sich „der absolute". Relativ ist der Raum, der sich zu einem anderen verhält, absolut dagegen der Raum, der sich zu keinem anderen verhalten kann, weil er alle in sich begreift.

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Dieser Raum kann niemals die Seite eines räumlichen Verhältnisses ausmachen, also kann er auch nicht beweglich sein. Er selbst bewegt sich nicht, in ihm bewegt sich alles. Relativ ist der Raum, der einen anderen außer sich hat, ein solcher (begrenzter) Raum steht in einem räumlichen Verhältniß; ein Körper kann gegen ihn seine Lage verändern, wie er die feinige in Rücksicht auf jenen. Der relative Raum ist begrenzt und beweglich, der absolute dagegen unbegrenzt und unbeweglich. Wir können beide durch den Begriff der Bewegung auch so unterscheiden: jede Bewegung geschieht im Raum und verhält sich zu einem bestimmten Raum; jeder Raum ist relativ, in Rücksicht auf welchen eine Bewegung stattfinden kann, wogegen der absolute Raum derjenige ist, in welchem alle Bewegung vorgestellt werden muß, welcher aber selbst sich nicht bewegt. Ein Körper bewegt sich in einem relativen Raume, welcher ruht: also verändert er in diesem Raume seine Lage und damit zu diesem Raume sein Verhältniß; also verändert auch dieser Raum sein Verhältniß zu ihm. Nun ist es gleich, ob ich sage: „der Körper A bewegt sich in einer bestimmten Richtung in einem bestimmten Raume, welcher ruht", oder ob ich sage: „der Körper A ruht, und der relative Raum bewegt sich in der entgegengesetzten Richtung mit derselben Geschwindigkeit“.1

2. Construction der Bewegungsgröße.

Aus diesem Gesichtspunkte, den schon der neue Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe festgestellt hatte, löst Kant das eigentliche Problem der Phoronomie. Es soll die reine Bewegungsgröße construirt Hauptst. I. Er.

1 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. flärung 1. Anmfg. 1 u. 2.

werden. Eine Größe construiren, heißt dieselbe zusammensehen; jede Größe ist aus Größen zusammengesezt: also muß auch die Bewegungsgröße als zusammengesetzt aus Bewegungsgrößen vorgestellt werden. Diese Vorstellung auszuführen ist die eigentliche Aufgabe der Phoro= nomie; als das Bewegliche gilt der mathematische Punkt, als die Richtung der Bewegung die gerade Linie. Die Zusammensetzung ge= rader Linien geschieht entweder in einer geraden Linie oder im Winkel. Wenn verschiedene Bewegungen in derselben Linie gehen, so ist ihre Richtung entweder gleich oder entgegengesezt. Das Problem der Pho= ronomie hat mithin folgende drei Fälle: die Bewegung ist zusammen= gesetzt aus verschiedenen Bewegungen: 1. in derselben Linie und in der= selben Richtung, 2. in derselben Linie und in verschiedenen (entgegen= gesezten) Richtungen, 3. in verschiedenen Linien.1

Die ganze Schwierigkeit liegt hier allein in der phoronomischen Betrachtungsweise. Aus dem Gesichtspunkte der Mechanik, durch die Begriffe der Kraft und Causalität sind die obigen Fälle sehr leicht und einfach zu entscheiden. Indessen betrachtet die Phoronomie die Bewegung nur als Größe. Ihre Probleme, die im Grunde nur ein einziges ausmachen, sollen durch Construction gelöst werden; diese stellt ihren Begriff in der Anschauung dar: es soll daher anschaulich gemacht werden, daß ein Punkt zwei verschiedene Bewegungen zugleich hat; dies heißt die Aufgabe der Phoronomie durch geometrische Con= struction lösen.

Daß eine und dieselbe Größe zwei verschiedene Bewegungen in derselben Zeit hat, läßt sich auf keine Weise anschauen, wohl aber läßt sich anschaulich machen, daß jene Bewegungen zu derselben Zeit in zwei verschiedenen Größen stattfinden. Die Möglichkeit der Con= struction hängt also davon ab, daß sich die beiden verschiedenen Bewegungen, die in derselben Größe zugleich stattfinden, an zwei verschiedene Größen vertheilen lassen, ohne in der Sache selbst das Mindeste zu ändern. Diese Möglichkeit ist bereits erkannt. Es ist vollkommen gleich, ob wir sagen: „der Punkt A bewegt sich in der geraden Linie AB", oder: „der Punkt A ruht, und der relative Raum bewegt sich in der entgegengesetzten Richtung BA". Wenn sich der Punkt A be= wegt, so ist die Folge, daß die Linie AB durchlaufen wird, also die

1 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Hauptst. I. Grundjaz 1. Anmfg. Ebendas. Hauptst. I. Erklär. 5. Anmfg.

beiden Punkte A und B ihre gegenseitige Entfernung aufheben und in demselben Orte zusammen kommen. Wenn sich der relative Raum in der entgegengesetzten Richtung BA bewegt, so ist die Folge, daß die Linie BA zurückgelegt wird, also die beiden Punkte B und A nicht mehr von einander entfernt sind, sondern in demselben Orte zu= sammentreffen. Daher leuchtet ein, daß beide Bewegungen ganz die= selben Ortsveränderungen, also dieselben Bewegungen sind.

Auf diese Weise läßt sich demnach die zusammengesetzte Bewegung construiren und das Problem der Phoronomie in allen seinen drei Fällen geometrisch auflösen.1

Nehmen wir die Geschwindigkeiten als gleich an, so können wir die verschiedenen Bewegungen durch zwei gleich große gerade Linien darstellen, welche im ersten Falle dieselbe Richtung, im zweiten entgegen= gesezte Richtungen haben, im dritten einen Winkel einschließen. Die zusammengesetzte Bewegung erscheint im ersten Fall als die Summe, im zweiten als die Differenz, im dritten als die Diagonale des Parallelogrammes der beiden gegebenen Linien.

a. Die zusammengesetzte Bewegung als Summe.

In allen drei Fällen läßt sich die zusammengesetzte Bewegungsgröße durch Construction bestimmen. Es sei der Punkt A gegeben, welcher in derselben Zeit zwei verschiedene Bewegungen von gleicher Größe und Richtung beschreibt, jede dieser Bewegungen sei gleich der Linie AB: so wird der Punkt A in derselben Zeit, wo er mit einfacher Bewegung die Linie AB durchlaufen würde, jezt eine doppelt so große Linie (2 AB AC) zurücklegen.

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Die beiden verschiedenen Bewegungen, die der Punkt A zu gleicher Zeit beschreibt, sind AB und BC. Die eine von beiden Bewegungen habe der relative Raum. Statt zu sagen: „der Punkt A bewegt sich von B nach C", dürfen wir sagen: „der relative Raum bewegt sich mit derselben Geschwindigkeit von C nach B". Damit ist die Construction gegeben. Nichts hindert die Vorstellung, daß der Punkt A in einer gewissen Zeit die Linie AB durchläuft; man kann sich ebenso leicht vorstellen, daß der relative Raum in derselben Zeit sich von C nach B

1 Metaphysische Anfänge der Naturwissenschaft. Hauptst. I. Lehrsak 1.

bewegt, daß also in dem Moment, wo der Punkt A in B eintrifft, auch der Punkt C in B eintrifft, d. h. daß in demselben Augenblicke die Punkte A und C zusammenkommen, daß ihre gegenseitige Entfern= ung aufgehoben oder die Linie AC zurückgelegt ist.1

b. Die zusammengesezte Bewegung als Differenz.

Sehen wir den zweiten Fall: die beiden verschiedenen Bewegungen des Punktes A seien die Linien AB und AC von gleicher Größe und entgegengesetter Richtung.

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Der Punkt A soll sich in derselben Zeit von A nach B und von A nach C bewegen. Wir ertheilen die eine der beiden Bewegungen dem relativen Raum: der Punkt A bewege sich nach B; in derselben Zeit bewege sich der relative Raum von C nach A. Wenn diese beiden Bewegungen zugleich stattfinden, so ist klar, daß in demselben Augen= blicke, wo A in B ankommt, der Punkt C in A eintrifft. Also ist die Entfernung zwischen A und C = BA = AC, d. h. sie ist dieselbe als vor der Bewegung, der Punkt A hat seinen Ort in Beziehung auf C nicht verändert, er hat sich also gar nicht bewegt: die Differenz der beiden verschiedenen (entgegengeseßten) Bewegungen ist in dem gegebenen Falle gleich Null.2

c. Die zusammengesezte Bewegung als Diagonale.

Sehen wir den dritten Fall: die beiden verschiedenen Bewegungen des Punktes A, welche zugleich stattfinden, seien die beiden gleich großen Linien AC und AB, welche den rechten Winkel CAB einschließen.

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Der Punkt A soll sich in derselben Zeit von A nach C und von A nach B bewegen. Die eine der beiden Bewegungen habe der relative Raum. Der Punkt A bewege sich nach C; in derselben Zeit bewege sich

1 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Hauptft. I. Lehrjak 1. Beweis. Erster Fall. Ebendas. Hauptst. I. Lehrsag 1. Zweiter Fall.

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der relative Raum von B nach A; er bewegt sich in dieser Richtung mit allen seinen Punkten, also auch mit dem Punkte C. Wenn also der Punkt A in C angelangt ist, so befindet sich in eben diesem Augen= blick der Punkt C in d. Während A sich nach C fortbewegt, hat fich C nach d fortbewegt: also hat der Punkt A die Linie Ad durchlaufen. Aber die Bewegung von C nach d ist die des relativen Raumes. Uebersehen wir diese Bewegung in die Bewegung des Punktes C, während der relative Raum ruht, so hat sich Punkt C in der entgegen= gesezten Richtung nach D bewegt: also hat im absoluten Raum der Punkt A die Bewegung von A nach D gehabt oder die Diagonale in dem Quadrat CABD beschrieben.1

Damit ist die Aufgabe der Phoronomie gelöst und die zusammengesetzte Bewegungsgröße in allen ihren möglichen Fällen durch Construction bewiesen. Diese Construction war möglich, da wir als das Bewegliche im Raume den mathematischen Punkt annahmen; sie war möglich, da nach dem „Neuen Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe" jede Bewegung gleich gesezt werden durfte einer entgegengesetzten Be= wegung des relativen Raumes. Indessen ist das Bewegliche in der Natur nicht der Punkt, sondern die Materie oder der wirkliche Körper. Sezen wir nun statt des Punktes die Materie als das Bewegliche im Raum, als das Subject der Bewegung, so muß die Materie begriffen werden als die Ursache oder Kraft der Bewegung. Damit entsteht die zweite Grundfrage der metaphysischen Naturlehre: die Aufgabe der Dynamik.

3 weites Capitel.

Der Begriff der Materie und deren Kräfte. Dynamik.

I. Die Materie als Ursache der Bewegung.

1. Die Materie als Raumerfüllung.

Die Phoronomie hatte die Materie erklärt als „das Bewegliche im Raum"; diese Erklärung war mit Absicht so weit gefaßt, daß man von dem Moment der Masse ganz absehen und für die Materie auch

1 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Hauptst. I. Lehrsat 1. Dritter Fall.

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