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sei, d. i. eine sinnliche Vorstellung von dem reinen geistigen Leben und die ganze Sinnenwelt ein bloßes Bild sei, welches unserer jezigen Erkenntnißart vorschwebt und, wie ein Traum, an sich keine objective Realität habe; daß, wenn wir die Sachen und uns selbst anschauen sollen, wie sie sind, wir uns in einer Welt geistiger Naturen sehen würden, mit welcher unsere einzig wahre Gemeinschaft weder durch Geburt angefangen habe, noch durch den Leibestod (als bloßer Er= scheinungen) aufhören werde u. s. w. Ob wir nun gleich von allem diesem, was wir hier wider den Angriff hypothetisch vorschüßen, nicht das Mindeste wissen noch im Ernste behaupten, sondern alles nicht einmal Vernunftidee, sondern bloß zur Gegenwehr ausgedachter Begriff ist, so verfahren wir doch hierbei ganz vernunftmäßig, indem wir dem Gegner, welcher alle Möglichkeit erschöpft zu haben meint, indem er den Mangel ihrer empirischen Bedingungen für einen Beweis der gänzlichen Unmöglichkeit des von uns Geglaubten fälschlich ausgiebt, nur zeigen, daß er ebensowenig durch bloße Erfahrungsgesetze das ganze Feld möglicher Dinge an sich selbst umspannen, als wir außerhalb der Erfahrung für unsere Vernunft irgend etwas auf gegründete Art erwerben können. Der solche hypothetische Gegenmittel wider die An= maßungen des dreift verneinenden Gegners vorkehrt, muß nicht dafür gehalten werden, als wolle er sie sich als seine wahren Meinungen eigen machen. Er verläßt sie, sobald er den dogmatischen Eigendünkel des Gegners abgefertigt hat. Denn so bescheiden und gemäßigt es auch anzusehen ist, wenn jemand sich in Ansehung fremder Behauptungen bloß weigernd und verneinend verhält, so ist doch jederzeit, sobald er diese seine Einwürfe als Beweise des Gegentheils geltend machen will, der Anspruch nicht weniger stolz und eingebildet, als ob er die bejahende Partei und deren Behauptung ergriffen hätte." „Man sieht also hieraus, daß im speculativen Gebrauch der Vernunft Hypothesen keine Gültigkeit als Meinungen an sich selbst, sondern nur relativ auf ent= gegengesetzte transscendentale Anmaßungen haben. Denn die Ausdehnung der Principien möglicher Erfahrung auf die Möglichkeit der Dinge überhaupt ist ebenso wohl transscendent, als die Behauptung der objectiven Realität solcher Begriffe, welche ihre Gegenstände nirgends, als außerhalb der Grenze aller möglichen Erfahrung finden können.“

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1 Kritik d. r. V. Methodenlehre. Hauptst. I. Abschn. III. (S. W. Bd. II. 6.583-585.) Vgl. dieses Werk. Bd. IV. Buch II. Cap. XV. (S. 573–575.)

Man wird in dieser Unsterblichkeitshypothese leicht unterscheiden, was auf Rechnung der theoretischen Vorstellungsart und Ausführung zu sehen, und was als die innerste Ueberzeugung des Philosophen selbst zu betrachten ist. Es ist seine auf die neue Lehre von der Idealitāt der Zeit und Sinnenwelt gegründete Ueberzeugung, daß unser Sinnen= leben den Charakter einer bloßen Erscheinung hat, daß unser intelligibles Wesen unabhängig von aller Zeit ist, also zeitlos und frei, ewig und unsterblich.

Wäre die Sinnenwelt nichts als ein Traum, der uns vorschwebt, oder ein Bild, welches wir wie ein Schauspiel betrachten, so würde von selbst einleuchten, daß wir diesen passiven Vorstellungszustand über= leben, denn das Ende des Traumes ist nicht auch das des Träumers und das Ende des Schauspiels nicht auch das des Zuschauers. Aber so einfach liegt die Frage nicht. Wir verhalten uns zu der Sinnenwelt nicht bloß anschauend, sondern auch handelnd, wir sind in dem Theater der Welt nicht bloß unter den Zuschauern, sondern auch unter den Spielern; diese Welt hat keinen anderen Zuschauerraum als die Bühne, sie ist der Schauplah, wo wir leben und handeln, auf dem wir erscheinen und zugleich unsere eigene Erscheinung betrachten und erkennen. Hier fällt daher der Lebenszustand mit dem Vorstellungszustande, der Acteur mit dem Zuschauer dergestalt zusammen, daß, wenn dieser Zuschauer aufhört, Spieler zu sein, er auch aufhört, Zuschauer zu sein.

Mit unserer Existenz in der Sinnenwelt entschwindet unserer Betrachtung auch die Erscheinung der Dinge; mit unserem sinn= lichen Lebenszustande ist auch unser sinnlicher Vorstellungszustand und damit der Charakter derjenigen Erkenntniß aufgehoben, deren Grundanschauungen Zeit und Raum sind. Unserem zeitlosen Wesen entspricht der Zustand des zeitlosen Erkennens oder jener intellectuellen Anschauung, der das Wesen der Dinge unmittelbar einleuchtet. Dies meint der Philosoph, wenn er in der oben angeführten Stelle uns die Annahme machen läßt: „unser Körper sei nichts als die Fundamental= erscheinung, worauf als Bedingung sich in dem jetzigen Zustande das ganze Vermögen der Sinnlichkeit und hiermit alles Denken bezieht; die Trennung vom Körper sei das Ende dieses sinnlichen Gebrauchs unserer Erkenntnißkraft und der Anfang des intellectuellen". „Wenn wir die Sachen und uns selbst anschauen sollen, wie sie sind, so würden wir uns in einer Welt geistiger Naturen sehen.“ Kann nun das zeitlose

Erkennen, wie unser Philosoph an einer anderen Stelle lehrt, nur dem Urwesen zukommen1, so würde demgemäß das Ende unseres sinnlichen Daseins als eine Rückkehr in das Urwesen, unser ewiges oder rein geistiges Leben als ein Leben in Gott zu betrachten sein. Mit den sinnlichen Vorstellungszuständen müßten dann auch die sinnlichen Begehrungszustände und damit jene Läuterungsbedürftigkeit wegfallen, um deren willen Kant in seiner praktischen Unsterblichkeitslehre die endlose Fortdauer unseres persönlichen Daseins gefordert hat. Dann würde die Lauterkeit nicht die Aufgabe und das Ziel, sondern die Bedingung und den Charakter des unsterblichen Lebens ausmachen.

Schopenhauer verwirft mit dem kantischen Theismus auch die Un= sterblichkeitslehre, welche in der Kritik der praktischen Vernunft gefordert wird und mit der Vergeltungslehre zusammenfällt; er bejaht die Unsterblichkeit unserer Wesens auf Grund der transscendentalen Aesthetik. „Wollte man, wie so oft geschehen, Fortdauer des individuellen Bewußt= seins verlangen, um eine jenseitige Belohnung oder Bestrafung daran zu knüpfen, so würde es hiermit im Grunde nur auf die Vereinbarkeit der Tugend mit dem Egoismus abgesehen sein. Diese beiden aber werden sich nie umarmen: sie sind von Grund aus entgegengesetzt.“ „Die gründlichste Antwort auf die Frage nach der Fortdauer des Individuums nach dem Tode liegt in Kants großer Lehre von der Idealität der Zeit, als welche gerade hier sich besonders folgenreich und fruchtbar erweist, indem sie durch eine völlig theoretische, aber wohl erwiesene Einsicht Dogmen, die auf dem einen wie auf dem anderen Wege zum Absurden führen, ersezt und so die ercitirendste aller metaphysischen Fragen mit einem male beseitigt. Anfangen, Enden, Fortdauern sind Begriffe, welche ihre Be= deutung einzig von der Zeit entlehnen und folglich nur unter Voraus= sehung dieser gelten. Allein die Zeit hat kein absolutes Dasein, ist nicht die Art und Weise des Seins an sich der Dinge, sondern bloß die Form unserer Erkenntniß von unserem und aller Dinge Dasein und Wesen, welche eben dadurch sehr unvollkommen und auf bloße Erscheinungen beschränkt ist.“2

Da es nun unserer Vernunft bei ihrer gegenwärtigen Einrichtung schlechterdings unmöglich ist, sich von dem Zustande des zeitlosen Seins und Erkennens eine Vorstellung zu verschaffen, so können wir von dem 2 A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. II. (5. Aufl.) S. 564. Vgl. Parerga und Paralipomena. Bd. II. (4. Aufl.) § 137.

1 S. oben Cap. I. S. 544 flgd.

Leben nach dem Tode nicht das Mindeste wissen. Wir beherzigen daher, was unser Philosoph ausdrücklich erklärt hat: daß seine Hypothese nicht das Dogma der Unsterblichkeit vertheidigen, sondern nur die Gegner desselben bekämpfen will. Indeffen bleibt es sehr bemerkenswerth, daß für die erlaubten und zur Polemik berechtigten „Hypothesen der reinen Vernunft" Kant gerade dieses Beispiel als das einzige und beste ge= wählt hat: nämlich die Lehre, welche unser gegenwärtiges Dasein als eine bloße Erscheinung oder sinnliche Vorstellung unseres ewigen und intelligiblen Lebens darstellt. Vergleichen wir die kantische Unsterblichkeitslehre nach dieser Hypothese der reinen Vernunft mit der nach dem Postulate der praktischen, so wird dort das ewige Leben als zeitlos, übersinnlich und rein geistig, hier dagegen als zeitlich, darum auch sinnlich und läuterungsbedürftig gefaßt: dort gilt es als Vollendung, die wir uns als ein Leben in Gott denken müssen, hier dagegen als eine endlos fortdauernde, in sittlicher Läuterung begriffene und der vergeltenden Gerechtigkeit Gottes unterworfene Entwicklung. Nach der ersten Fassung ist unser ewiges Leben unabhängig von Zeit und Raum. Was man den Zustand der Seele nach dem Tode nennt, ist für unser gegenwärtiges Erkenntnißvermögen mysterium magnum, und „die leidige Frage: wann? wie? und wo? wird damit abgeschnitten, denn sie ist ungereimt und sinnlos, da sie das zeit- und raumlose Dasein in Zeit und Raum sucht. Nach der zweiten Fassung dagegen soll die Seele nach dem Tode ihr Dasein fortsezen, sie soll eine Reihe fort schreitender Läuterungszustände erleben, also in der Zeit, mithin auch in der Sinnenwelt fortexistiren, sie muß in einem gewissen Zeitpunkte den Körper verlassen, einen neuen Ort ihres Aufenthaltes suchen, eine neue Lebensform annehmen, und da dies alles nur in Zeit und Raum, also in unserer gemeinsamen Sinnenwelt vor sich gehen kann, so scheint es, als ob wir mit der gehörigen Spürkraft ihre verborgenen Wege auffinden könnten. Jezt fühlen wir uns nicht mehr vor jenes mysterium magnum gestellt, von dem wir sehr wohl erkennen, warum es uns verschlossen bleibt, sondern wir stehen rathlos, wie Mephistopheles vor dem Leichname des Faust:

Und wenn ich Tag und Stunden mich zerplage,
Wann? wie und wo? das ist die leidige Frage.

Drittes Capitel.

Die kantische Philosophie als Entwicklungslehre.

I. Die kantischen Grundprobleme.

Die Thatsache, daß wir eine gemeinsame Sinnenwelt vorstellen, war das erste Problem, dessen Auflösung das Thema der kantischen Erkenntnißlehre ausmachte. Wenn diese Sinnenwelt nicht durchgängig phänomenal, d. h. vorstellbar und vorgestellt wäre, so müßte jene That= sache für unerklärlich gelten. Die Sinnenobjecte find Phänomene oder Erscheinungen. Um die lezteren zu erklären, sind drei Fragen zu be= antworten, welche recht eigentlich die kantischen Grundprobleme enthalten. Es muß erstens ein Subject geben, dem überhaupt etwas gegenständlich sein oder erscheinen kann, ohne welches keinerlei Art von Erscheinung möglich wäre. Die Frage heißt: wer ist das Subject des Erkennens? Es muß zweitens ein Wesen geben, das allen Erscheinungen und dem erkennenden Subjecte selbst zu Grunde liegt, wenn das letztere nicht etwa die Dinge, welche es vorstellt, selbst aus sich hervorbringt, und zwar vollständig und ohne Rest. In diesem Fall würde das erkennende Subject zugleich der Wesensgrund aller Erscheinungen sein. Da nun dieser Fall nicht stattfindet, so muß gefragt werden: was ist das Sub= stratum, welches dem erkennenden Subjecte wie den Erscheinungen insgesammt zu Grunde liegt? Es muß drittens zwischen jenem Wesens= grunde und allem, was auf ihm beruht, ein Zusammenhang bestehen, der die Wesenseigenthümlichkeit unserer Erkenntnißformen wie unserer Erkenntnißobjecte (Erscheinungen) begründet und, wenn uns derselbe einleuchtet, erklärt. Die Frage heißt: warum ist die Art unseres Erkennens und die Art der Dinge so und nicht anders beschaffen? Fassen wir die drei Fragen kurz zusammen, indem wir sie bloß durch ihre Anfangsworte bezeichnen, so lauten sie: Wer? Was? Warum?

Die Auflösung der ersten Frage giebt die Kritik der reinen Vernunft durch ihre Erforschung unserer Erkenntnißvermögen und durch ihre Lehre von der Entstehung der Sinnenwelt aus den materialen Elementen unserer Eindrücke und den formalen unserer Anschauungen

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